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2:09:56 Stunden – Debatten um einen Meilenstein

Ein Monat nach dem neuen Fabel-Weltrekord von Ruth Chepngetich von 2:09:56 Stunden im Marathon der Frauen sind die Diskussionen noch nicht abgeebbt.
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Rund ein Monat ist der neue Weltrekord im Marathon der Frauen von Ruth Chepngetich nun schon alt. Die Debatten und Berichterstattungen rund um dieses historische Ereignis haben in der Laufszene noch nicht endgültig abgerissen. Zu einschneidend und überraschend wurde der Meilenstein des ersten sub-2:10-Stunden erreicht. Viele halten eine Zeit von 2:09:56 Stunden eine aus der Zukunft stammende Leistung. Auch der ORF mit Österreichs wichtigster Sportsendung, „Sport am Sonntag“, widmete sich am vergangenen Sonntag der Frage, wie schnell Frauen laufen können. Im Beitrag kommen auch RunUp-Herausgeber Johannes Langer und Österreichs Marathonrekordhalter Peter Herzog zu Wort. Dessen Bestleistung ist nun hinter den Frauen-Weltrekord gerutscht, eine noch nie da gewesene Konstellation im heimischen Laufsport. Ein Schicksal, dass der österreichische Marathonlauf mit über 150 anderen Mitgliedsländern von World Athletics teilt.

„Das ist die größte Leistung in der Geschichte des Marathonlaufs nach praktisch allen Maßstäben – und sie hat ein Wesennest an Reaktionen hervorgerufen.“ Das schrieb der renommierte kanadische Sportwissenschaftler und Journalist Alex Hutchinson wenige Tage nach Ruth Chepngetichs furiosem Weltrekordlauf in einer Zeit von 2:09:56 Stunden beim Chicago Marathon 2024 auf der Plattform „Outside Online“. Er ist bei weitem nicht der einzige in der Laufwelt, der das Gezeigte der Kenianerin mit detaillierten Einschätzungen zu betrachten und im Wirrwarr von möglichen Erklärungen Orientierung zu finden versucht. Denn als Fakten stehen die Endzeit und die Splits des Chicago Marathon zu Buche, dazu die statistischen Vergleiche zwischen den Weltrekorden in anderen Disziplinen sowie historische Vergleiche disziplinenintern. Näher an der Äquivalenzbestleistung der Männer, deren Marathon-Weltrekord, war nur Paula Radcliffe im Jahr 2003 für kurze Zeit dran. Dieser Weltrekord hält seit einem Jahr bei einer Zeit von 2:00:35 Stunden (Kelvin Kiptum, ebenfalls Chicago). Also „nur“ neun Minuten und 21 Sekunden schneller als der Weltrekord der Frauen.

Viele kleine Wunderdinge

Viele Kenner der Szene zeigten sich nicht nur die Qualität der Verbesserung irritiert, sondern auch von der Tatsache, wie frisch Ruth Chepngetich im Zielraum des Chicago Marathon unmittelbar nach dieser Gewaltleistung gewirkt hat. Dass die Marathonzeiten seit der 2016 initiierten Schuhrevolution flächendeckend massiv verbessert worden sind, hat sich längst auf die Szene ausgewirkt. Obwohl Chepngetich in Chicago ein neues Modell ihres Ausrüsters Nike, der sich im Material-Rüstungswettbewerb mit Adidas und auch anderen Playern befindet, getragen hat, ist die Auswirkung technischer Fortschritte unter den Fußsohlen wohl begrenzt. Auch wenn Läuferinnen, meist kleiner und daher leichter, möglicherweise anteilsmäßig stärker von der modernen Schuhtechnologie profitieren als Läufer. Die Material-Revolution spielt generell auf diversen Ebenen im Marathonsport eine Rolle, auch die Innovation in anderen das Training und die Regeneration betreffende Bereiche.

Wie Hutchinson erwähnt, habe Chepngetich in Chicago erstmals den Hydrogel Kohlenhydrat-Drink des schwedischen Unternehmens Maurten während des Wettkampfs konsumiert. Dieses Getränk soll eine große Menge Kohlenhydrate in der optimalen Flüssigkeitsmenge liefern, ohne das Verdauungssystem zu belasten – und damit die Energieversorgung des Körpers während der Höchstbelastung optimieren, besonders auch durch schnellere Verfügbarkeit in der Muskulatur. Auch Eliud Kipchoge vertraute beim sub-2-Marathon in Wien 2019 auf die schwedische Expertise.

RunUp-TV-Tipp: „Sport am Sonntag“ vom 10. November inklusive des Beitrags, der der Frage nachgeht, wie schnell Frauen im Marathon noch laufen können. Ausgestrahlt wurde die Sendung auf ORF 1. Der Laufsport-Block mit zwei Beiträgen beginnt ab 46:35 Minuten Sendezeit.

Eine unheimliche Entwicklung

Herausragend an der Zeit von 2:09:56 Stunden sind nicht nur die Zahlen per se, sondern auch die Relationen zu Mitstreiterinnen. Innerhalb der nächsten vier Minuten befinden sich mit der Weltrekord-Vorgängerin Tigst Assefa, deren Marke die Kenianerin um 1:57 Minuten verbessert hat, und Europarekordhalterin Sifan Hassan gerade einmal zwei Athletinnen. Bei den Männern liegen 58 weitere Athleten innerhalb der Zeitspanne des Weltrekords plus vier Minuten. Ein Argument für diese Divergenz betrifft die sozioökonomische Entwicklung der ostafrikanischen Frauen, die ein um Jahrzehnte verzögertes Standing im Spitzensport der Langstreckendisziplinen zur Folge hat. Gut möglich, dass die Dichte, die bei den Männern seit Jahren Usus ist, bei den Frauen noch folgt.

Ein weiterer leistungsfördernder Faktor im Rennen von Ruth Chepngetich waren die beiden perfekt auf sie abgestimmten, männlichen Tempomacher. Einer begleitete sie bis ins Ziel. Diesen Vorteil können männliche Marathon-Weltrekordaspiranten naturgemäß nicht genießen. Auffallend war die Formation, in der das Trio gelaufen ist. Chepngetich positionierte sich zwischen den beiden, leicht nach hinten versetzt, um abgeschirmt zu sein. Sich auf Tempomacher optimal verlassen zu können, ist bekanntermaßen sowohl ein physischer (Schutz vor Luftströmungen) als auch psychischer Vorteil (volle Konzentration auf die eigenen Laufschritte, keine taktischen Gedanken notwendig). Chepngetich war um sechs Minuten und 20 Sekunden schneller als Peres Jepchirchir bei ihrem Weltrekordlauf in reinen Frauen-Marathons (teilweise mithilfe von weiblichen Tempomacherinnen) – das ist auf die Gesamtdistanz gesehen ein Abstand von zwei Kilometern!

Ein weiterer interessanter Punkt: Ruth Chepngetich lief ihren Weltrekord im Alter von 30 Jahren und in ihrem bereits 14. Marathon laut Statistik des Leichtathletik-Weltverbandes. Dieser gigantische Leistungssprung von mehreren Minuten scheint unter diesen Vorzeichen unnatürlich. Wenngleich bei den beiden früheren Auftritten der Kenianerin in Chicago zu beobachten war, dass sie ein ähnlich schnelles Tempo bis zur Halbmarathonmarke bereits zweimal probierte. Ihre zweite Marathon-Hälfte 2024 von 1:05:40 Stunden war nur geringfügig schneller als ihre ersten Marathon-Hälften in den Jahren 2022 und 2023. Außerdem tauchte Chepngetich erst mit 22 in der internationalen Szene auf, hat also möglicherweise nicht so viele Belastungsjahre wie andere 30-jährige Läuferinnen in den Knochen.

Über Kenia hängt der Doping-Schatten

Obwohl Ruth Chepngetich als Athletin selbst eine weiße Weste hat, wird das Thema Doping ungewohnt deutlich mitschwingend angesprochen. Grund dafür gibt es genug: Fast 300 Sanktionen gegen kenianische Athlet*innen wurden seit der Gründung der Athletics Integrity Unit (AIU), der unabhängigen Dopingermittlungskommission des Leichtathletik-Weltverbandes (World Athletics), im Jahr 2017 ausgesprochen. 120 kenianische Athlet*innen sind gegenwärtig gesperrt.

Auch das Management, das hinter Chepngetichs Erfolge steht, die italienische Agentur Rosa Associati, steht in Verbindung mit einigen teils prominenten Dopingfällen der letzten Jahre, darunter Rio-Olympiasiegerin Jemima Sumgong, Rita Jeptoo, Lawrence Cherono, Titus Ekiru oder Nijel Amos. Das alles liefert freilich keine Indizien dafür, wie Ruth Chepngetich zu ihrer Sternstunde in Chicago gekommen ist. Die generelle Berichterstattung und die sich darin widerspiegelnde Frage, welche Rolle legale und illegale Substanzen bei der Leistungsqualität im Weltklassebereich des Marathonsports spielen könnten, demonstriert, dass hier Unsicherheiten vorhanden sind. Und dass sich unter den fachkundigen Beobacher*innen der Szene eine gesunde Skepsis verinnerlicht hat.

Diese Haltung trifft den kenianischen Nationalstolz, wie übertriebene Debatten im kenianischen Parlament auf politischer Ebene belegen.

Wie schnell läuft sich’s?

Oft haben Meilensteine in der Leichtathletik dazu geführt, dass der neue Standard Rival*innen zu mehr Risiko und neuen Visionen im alltäglichen Training animiert und es bald gleichwertige oder noch bessere Leistungen gegeben hat. Die erste sub-4-Meile von Roger Bannister ist ein gutes Beispiel dafür. Da nicht zu erwarten ist, dass sich die Welt rückwärts dreht und da das Streben nach neuen Höchstleistungen Essenz der Menschheit und der Laufwelt gleichermaßen ist, ist die Frage nach den nächsten Topleistungen keine verfrühte.

Catherine Ndereba ist eine optimale Ansprechpartnerin dafür. Über ein Jahrzehnt lang strebte die Marathon-Elite der Frauen danach, was Ingrid Kristiansen in den 80er Jahren noch nicht gelungen ist: ein Marathon unter 2:20 Stunden. Nur eine Woche, nachdem Naoko Takahashi beim Berlin Marathon 2001 diese Sehnsuchtsmarke endlich unterbot, steigerte die Kenianerin beim Chicago Marathon den Weltrekord der Japanerin um eine Minute auf eine Zeit von 2:18:47 Stunden. Wie Chepngetich in Chicago. So schnell wird es dieses Mal nicht gehen (oder liefert der Valencia Marathon Wunder?), aber Ndereba wagt den Blick nach vorne. „Ruths Errungenschaft ist historisch. Sie hat die Tür der Möglichkeiten für den Marathon der Frauen ein gutes Stück geöffnet. Ich sage: Es werden noch bessere Zeiten gelaufen, noch mehr Athletinnen puschen das Limit“, sagte sie der kenianischen Tageszeitung „Daily Star“. „Weitere großartige Geschichten und Rekorde werden folgen!“ Nderebas Weltrekord hielt damals ein Jahr, ehe Paula Radcliffe bei ihrem ersten von zwei Weltrekordläufen gleich um eineinhalb Minuten schneller gelaufen ist.

Die US-amerikanische Lauf-Plattform „Let’sRun.com“, deren Mitbegründer Robert Johnson bei der Pressekonferenz nach dem Chicago Marathon die mittlerweile berühmte Frage gestellt hatte, was Chepngetich jenen Leuten entgegnen würde, die auf die Idee kämen, ihre Weltrekordleistung mit Doping in Verbindung zu bringen, sprach im Vorfeld des New York City Marathon mit dem äthiopischen Starcoach Gemedu Dedefo, der unter anderen Chepngetichs Vorgängerin Tigst Assefa unter seinen Fittichen hat, über das Potenzial von Frauen. Er stelle sich eine 2:08er Zeit als machbar vor und erinnerte auch an die Halbmarathon-Durchgangszeit Chpengetichs von 1:04:16 Stunden in Chicago. In seiner Vorstellung, so Dedefo, würde man einen Weltrekord nämlich mit einem negativen Split, also einer schnelleren zweiten Marathon-Hälfte probieren.

Renato Canova, erfolgreicher italienischer Trainer, schätzte in einem Interview mit der kenianischen Tageszeitung „The Standard“: „Ich glaube nicht, dass Frauen jemals einen Marathon in 2:05 Stunden laufen werden. Aber der jetzige Weltrekord kann verbessert werden und zwar von einer hochtalentierten Athletin, die ihre Karriere voll auf den Marathon ausrichtet.“

Autor: Thomas Kofler
Bild: © Gerd Altmann / Pixabay – Symbolbild

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