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Mit dem fabelhaften neuen Weltrekord in einer Zeit von 2:09:56 Stunden hat Ruth Chepngetich beim Chicago Marathon ein futuristisches Zeitalter antizipiert und eine Schallmauer durchbrochen, die vor nicht allzu langer Zeit in der völligen Absurdität angesiedelt worden wäre. Sie ist auch jetzt ein Ereignis zum kollektiven Staunen. Aber ein Fakt.
Der Marathon hat einen neuen Weltrekord. Und zwar einen, der unterhalb von 2:10 Stunden liegt. Was (noch) nicht realistisch erschien, ist seit gestern Realität. Ruth Chepngetich ist für diese astronomische Leistung beim Chicago Marathon verantwortlich – 2:09:56 Stunden. Um Längen besser als alles, was der moderne Marathonsport je erlebt hat. Vielleicht sogar besser, als alles, was die Leichtathletik in den letzten Jahren gesehen hat.
Sie habe keine Angst vor der Geschwindigkeit gehabt, sondern habe mit einer Endzeit im Bereich von 2:10 Stunden kalkuliert, meinte Chepngetich nach dem Rennen. „Es war nicht einfach, den Weltrekord zu brechen. Dafür sind Entschlossenheit und Fokus notwendig.“ Der Chicagoer Renndirektor Carey Pinkowski lobte: „Heute, das war ein Beispiel eines furchtlosen Laufstils. Ich habe sie laufen gesehen und sofort war mein Gefühl präsent: Das wird ein neuer Weltrekord. Schließlich weiß sie ja, wie es sich anfühlt, so schnell zu laufen.“ Der Chicago Marathon hält nun beide Weltrekorde im Marathon simultan sowie bereits einige Monate lang Anfang des Jahrhunderts. Der Berlin Marathon war sowohl 1999 als auch 2023 für zwei Wochen in Besitz beider Weltrekorde, ehe Chicago ihm jeweils einen wegnahm. Nun zwei binnen zwei Jahren.
Eigentlich hat sich die Marathon-Welt noch nicht von der unglaublichen Steigerung des Weltrekords durch Tigst Assefa (2:11:53 Stunden) beim Berlin Marathon 2023 erholt. Zwei Minuten legte die Äthiopierin, die wie Phönix aus der Asche in ihre Marathon-Karriere gestartet war, damals zwischen den alten Weltrekord von Brigid Kosgei und ihrer eigenen Bestleistung. Chepngetich schnitt noch einmal fast zwei Minuten ab.
Viel wahrscheinlicher als den ersten Marathon einer Frau unter 2:10 Stunden schien ein Marathon unter zwei Stunden – und wer weiß, vielleicht hätte Kelvin Kiptum beim Rotterdam Marathon 2024 einen geschafft. Nun spricht die Marathon-Welt aber über eine durchaus vergleichbare Schallmauer wie der sub-2-Marathon der Männer, wenngleich der Meilenstein nicht so „rund“ ist wie die Zahl 2:00 – und das alles nur 23 Jahre, nachdem der Marathonlauf der Frauen die Schallmauer der 2:20 Stunden erst durchbrochen hat.
Fast sprachlos hinterlässt das Selbstverständnis, mit dem die Top-Athletinnen des Chicago Marathon derartige Wunderzeiten ansteuerten. Tokio-Siegerin Sutume Kebede, bis gestern Weltjahresschnellste, wünschte sich laut „Let’sRun.com“ beim technischen Meeting am Vortag des Marathons, als schon klar wurde, dass die Bedingungen für Höchstleistungen passen würden, eine Halbmarathon-Durchgangszeit von 1:05:30 Stunden. So sagt man üblicherweise eine Weltrekord-Attacke an.
Doch Chepngetich scherte sich erst gar nicht um die Pläne ihrer Kontrahentin, schließlich hatte sie zwei perfekt abgestimmte männliche Tempomacher für sich im Rennen. Kebede absolvierte die erste Marathon-Hälfte eine Minute schneller als gedacht, Chepngetich lag noch einmal 14 Sekunden davor. Die Kenianerin lag in der Hochrechnung auf einen Kurs 2:08er-Endzeit – zur Erinnerung, damit hätte man ins Olympische Starterfeld von Paris 2024 kommen können, bei den Männern!
Die Anfangsphase war so absurd, dass das Top-Duo bei den Frauen Kilometerschnitts von drei Minuten abspulten und bis kurz vor der Zwischenzeit bei Kilometer zehn gleichauf mit den besten US-Männern lagen. Beim Halbmarathon lag das US-Duo Zach Panning und CJ Albertson nicht einmal eine Minute vor Chepngetich, beide waren aber auf Kurs deutliche persönliche Bestleistung.
Das Eigenartige: Während die Kluft zwischen Chepngetich und Kebede immer weiter aufging und die Äthiopierin nach Kilometer 30 so einbrach, dass aus Sekunden in kurzen Abständen wiederholt Minuten wurden, musste die Kenianerin ihr Tempo kaum reduzieren. Chepngetich hat auf der ersten Marathon-Hälfte nur haarscharf ihre Halbmarathon-Bestleistung verpasst, die im übrigen kenianischer Halbmarathonrekord ist (1:04:02), mit der zweiten Hälfte blieb sie nicht einmal zwei Minuten darüber. Es sind zwei der drei schnellsten Halbmarathon-Splits der Marathon-Geschichte, vereint in einem Rennen. Nur Assefas zweite Marathon-Hälfte in Berlin war sieben Sekunden schneller als jene von Chepngetich gestern.
Ihre Halbmarathon-Durchgangszeit wäre die fünftschnellste Halbmarathonzeit der Geschichte des Laufsports der Frauen und hätte bis vor drei Jahren für einen Weltrekord gereicht. Der Einbruch kam nie, der Split von 6:45 Minuten von Kilometer 40 ins Ziel, wo sogar noch eine Brücke absolviert werden muss, war noch atemberaubend, Assefa war 2023 in Berlin in diesem Abschnitt einen Tick schneller. Selbst das Zielgelände verließ Chepngetich als hätte sie noch ein paar Kilometer weiter joggen können. Eine fittere und schnellere Marathonläuferin hat die Welt noch nie gesehen!
* Strecke zu kurz laut Nachvermessung
** Punkt-zu-Punkt-Strecke
Nach einem enttäuschenden neunten Platz beim London Marathon 2024, wo keine männlichen Pacemaker für Frauen-Rennen eingesetzt werden, hatte Chepngetich keine Chance auf ein Olympia-Ticket im kenianischen Team. Nachvollziehbarerweise. Nun ist sie am Gipfel des Sports. Sie sprach von einem Traum, einer traumhaften Vorbereitung und einem optimalen Laufgefühl.
Ganz anders Kebede: Die 29-Jährige erreichte das Ziel völlig erschöpft als Zweite mit einem rekordverdächtigen Abstand von siebeneinhalb Minuten. Nach der wahnsinnigen ersten Hälfte rettete sie mit einer Marathon-Hälfte von 1:13:02 Stunden gerade noch den zweiten Platz vor Irine Cheptai. Die Hamburg-Siegerin lief einen ansprechenden zweiten Karriere-Marathon zu einer persönlichen Bestleistung von 2:17:51 Stunden auf Basis einer offensiven, aber noch halbwegs erträglichen Halbmarathon-Durchgangszeit von 1:08:19 Stunden. Joyciline Jepkosgei, die zu Beginn versuchte, das irre Tempo der Spitze mitzugehen und bald dafür büßte, setzte nach der ersten Marathon-Hälfte von 1:07:30 Stunden eine zweite Hälfte von 1:13:21 Stunden drauf und wurde hinter Buze Diribe Fünfte.
„Normal“ waren die Leistungen der US-Amerikanerinnen. Susanna Sullivan war in einer Zeit von 2:21:56 Stunden als Siebte überraschend die Schnellste der Lokalmatadorinnen. Die 34-Jährige war nur knapp über ihrer Halbmarathon-Bestleistung angegangen und blieb letztlich zweieinhalb Minuten unter ihrer bisherigen Bestleistung. Das Bemerkenswerte: Wie „LetsRun.com“ schreibt, ist Sullivan Vollzeit-Mathematik-Lehrerin.
Es folgten Lindsay Flanagan (2:23:21, Neunte), ebenfalls mit Bestleistung, sowie Emma Bates (2:24:00, Elfte). Sara Hall musste sich mit Platz 18 zufrieden geben, Betsy Saina spürte in der zweiten Hälfte die von einer Verletzung gestörten Vorbereitung mit Platz 19, Keira D’Amato musste nach der ersten Marathon-Vorbereitung an ihrem neuen Trainingsstandort in der Höhe von Utah mit Schmerzen im Fuß bereits früh aus dem Rennen.
Zurück zum Außergewöhnlichen: Angesichts solcher fabelhafter Leistungen ist im Spitzensport ein Gedanke an potenziellen Betrug nicht nur naheliegend, sondern unter kritischer Herangehensweise auch in vernünftigem Maße notwendig, einer Prüfung zu unterziehen. Die Fakten: Ruth Chepngetich ist bisher unbescholten und beindet sich im höchsten Testingpool der Marathonläuferinnen, die ja zusätzlich zur Teststrategie des Leichtathletik-Weltverbandes auch von den World Marathon Majors kontrolliert werden, zu denen sich der Chicago Marathon zählen darf. Sie hat sich als Art Quereinsteigerin in den Laufsport (bis zum Alter von 23 sind keine Wettkampfleistungen bekannt, Anm.) in den letzten Jahren mächtig entwickelt: Ein gewaltiges Marathon-Debüt in Istanbul 2018 (2:18:35), Streckenrekord beim Dubai Marathon 2019 (2:17:08), Weltmeisterin 2019, Fast-Weltrekord 2022 in Chicago, zwei schnelle Rennen beim Nagoya Women’s Marathon, wo keine männlichen Tempomacher zur Verfügung stehen.
Es ist eine kontinuierliche Steigerung in großen Raten, die aber auch Rückschläge wie beim London Marathon 2020 und 2024 sowie bei den Olympischen Spielen 2021 enthält. Die 30-Jährige hält nun drei der schnellsten neun Marathonläufe der Geschichte, nur Assefa taucht in den Top-Ten ebenfalls mehr als einmal auf.
Nun zum Hintergrund, der Spekulationen nicht verhindern kann, aber auch keinen konkreten Verdacht bringt: Ihr Heimatland Kenia produziert seit dem Russland-Skandal die mit Abstand meisten Dopingmeldungen und -sperren in der internationalen Leichtathletik. Chepngetich, laut „Let’sRun.com“ ohne offiziellen Trainer, wird von der Agentur Rosa Associati unter der Leistung des italienischen Managers Federico Rosa vertreten, die mehrere Teamcamps in Kenia sowie je eines in Äthiopien und Uganda leitet.
Es ist der 13. Weltrekord für Rosa Associati, der erste seit dem Halbmarathon-Weltrekord von Jacob Kiplimo vor fast drei Jahren. In den vergangenen Jahren schrieb das Team aber nicht nur positive Schlagzeilen, schließlich trainierten dort einige der prominentesten Dopingfälle der kenianischen Laufsportgeschichte: Rita Jeptoo und Rio-Olympiasiegerin Jemima Sumgong.
Dazu kommen noch etwa Sarah Chepchirchir, als Wiederholungstäterin endgültig ins verfrühte Karriereende geschickt, der für gleich zehn Jahre gesperrte Titus Ekiru sowie Lawrence Cherono, zwei Top-Marathonläufer der letzten Jahre. Auch das ehemalige 800m-Wunderkind Nijel Amos, dessen Dopingsperre bald abläuft, und der aktuell gesperrte brasilianische Stabhochspringer Thiago Braz werden in der Highlight-Auswahl der rund 200 Athlet*innen auf der Website von Rosa Associati geführt. Sie alle trainieren bzw. trainierten nicht in den gleichen Gruppen oder Camps, daher sind selbstverständlich keine Schlüsse daraus zu ziehen.
Die US-amerikanische Plattform „Let’sRun.com“ verglich alle Weltrekorde zwischen Männern und Frauen auf den Olympischen Sprint- und Laufdistanzen bis hinauf zum Halbmarathon und Marathon. Zwischen den Marathon-Weltrekorden von Kelvin Kiptum (2:00:35) und Ruth Chepngetich (2:09:56) liegen nur 7,75%, der mit Abstand geringste Wert vor dem Halbmarathon (9,3%). Am größten ist der Unterschied im 800m-Lauf (12,26%), wo der Frauen-Weltrekord seit über 40 Jahren besteht.
Eine Teilerklärung dafür könnte sein, dass Frauen im Marathon und im Halbmarathon männliche Tempomacher-Arbeit genießen können – und zwar im Unterschied zu Männerrennen vom ersten Kilometer bis zum allerletzten. Daher setzen immer mehr Athletinnen ihre Trainingspartner zu diesen Zwecken ein, ein Vertrauensvorteil, der harmonische Renngestaltungen im Risikobereich erlaubt.
Alle Leistungen, die laut Performance Score von World Athletics über 1.300 Punkte bringen, sind trotz der etwaigen Schwächen des Vergleichs Weltklasse. Der bisher bestdotierte Frauen-Weltrekord in einer metrischen Disziplin war jener von Assefa im Marathon (1.318). Genau diesen Weltrekord hat Chepngetich um fast zwei Minuten pulverisiert, das bringt einen einzigartigen Performance Score von 1.339. Interessanterweise ist der Halbmarathon-Weltrekord von Letesenbet Gidey, die mit fast einer Minute Vorsprung die Bestenliste anführt, der schlechtestdotierte in allen Laufdistanzen.
Was den neuen Marathon-Weltrekord ebenfalls außergewöhnlich macht, sind die enormen Abstände in der Bestenliste. Platz drei der Bestenliste, Olympiasiegerin Sifan Hassan, liegt fast vier Minuten hinter dem Weltrekord. Die Fünfte, Weltmeisterin Amane Beriso, verliert mit ihrer Bestleistung über fünf Minuten. Sieben Minuten „langsamer“ laufend als der Weltrekord würde Platz 16 in der Weltbestenliste bedeuten, neun Minuten „langsamer“ bedeutet immer noch einen Top-50-Platz.
Nur zwei nicht in Afrika geborene Athletinnen liegen übrigens innerhalb der Zeitspanne Weltrekord plus neun Minuten: die langjährige Weltrekordhalterin Paula Radcliffe und US-Rekordhalterin Emily Sisson.
Autor: Thomas Kofler
Bild: © Unsplash / Max Bender