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Hinter den verschlossenen Türen im Headquarter von adidas in Herzogenaurach dürften die Korken ordentlich geknallt haben. Besser hätten Timing, Inhalt sowie Versprechungen der Präsentation des neuen Superschuhs aus dem eigenen Hause (siehe RunAustria-Artikel) nicht harmonieren können mit den Leistungsexplosionen einiger adidas-Athleten, unter anderem Tigist Assefa. Ein PR-Traum! Die Äthiopierin, bereits im letzten Jahr auf wundersame Art und Weise zum Sieg in 2:15:37 Stunden gelaufen, steigerte ihre persönliche Bestleistung bei sehr guten äußeren Marathon-Bedingungen um fast vier Minuten auf eine Zeit von 2:11:53 Stunden. Schlagartig hat sie eine neue Ära des Frauen-Marathon eröffnet, denn die alte globale Bestmarke von Brigid Kosgei ließ die Äthiopierin gleich um zwei Minuten und elf Sekunden hinter sich. Erstmals in diesem Jahrtausend hält der Berlin Marathon nun beide offiziellen Weltrekorde, zuletzt war ein Weltrekord bei den Frauen in der deutschen Hauptstadt im Jahr 2001 gelungen. Durch Naoko Takahashi, damals in 2:19:46 Stunden. 22 Jahre bringen fast acht Minuten Unterschied, es fällt schwer zu realisieren, aber es ist genau so passiert.
Über den Berlin Marathon 2023 wird lange gesprochen werden, vielleicht sogar ewig. Tigist Assefa, 26 Jahre alt, als Marathon-Wunderkind bereits im letzten Jahr bezeichnet, vom Athleten-Manager Gianni Demadonna vertreten und vom äthiopischen Topcoach Gemedu Dedefo trainiert. Dieser coacht aktuell eine Auswahl an äthiopischen Topläufern, darunter die ehemaligen Weltmeister Tamirat Tola und Muktar Edris, Yomif Kejelcha sowie Marathon-Weltmeisterin Amane Beriso. Assefa startete ihre internationale Karriere in jungen Jahren im 800m-Lauf und blieb im Jahr 2014 zweimal unter zwei Minuten. Außerdem gewann sie den 800m-Lauf im Rahmen des ISTAF in Berlin vor neun Jahren. Nachdem sie im Olympischen Vorlauf von Rio scheiterte, verschwand sie zwei Jahre lang aufgrund von Achillessehnen-Problemen von der Bildfläche und absolvierte Ende 2018 einen 10km-Lauf in Dubai, ihr Straßenlauf-Debüt. Recht unauffällige Leistungen wurden „gehighlightet“ von einer Halbmarathonzeit von 1:08:24 Stunden in Valencia 2019.
Diese Leistung konnte sie erst beim Wettkampf-Comeback nach der Pandemie-Pause bei drei Gelegenheiten jeweils im überschaubaren Maße unterbieten. Völlig unvermittelt kam der Durchbruch mit dem Triumph beim Berlin Marathon 2022 in einer Zeit von 2:15:37 Stunden. Was daherkam wie eine Eintagsfliege – die Experten der US-amerikanischen Laufplattform Let’s Run.com bezeichneten die Leistung als eine der schockierendste der Marathon-Geschichte – ist nun keine mehr: Im ersten Wettkampf seit neun Monaten (gesundheitsbedingte Absage des London Marathon, Anm.) torpedierte Assefa den Marathon-Weltrekord sowie den äthiopischen Rekord von Valencia-Siegerin und Weltmeisterin Amane Beriso und ist nun – man höre und staune – die erste äthiopische Läuferin aller Zeiten, die den Marathon-Weltrekord hält. Und das in einer neuen Dimension, die wohl nicht viele bereits für diesen Marathon-Herbst erwartet hätten. „Berlin ist ein spezieller Ort für mich. Nach dem letzten Jahr hatte ich große Pläne für heute. Ich habe die letzten Monate hart trainiert, um ein neues Level zu erreichen. Ich bin sehr dankbar für die Unterstützung vom Streckenrekord und meines Sponsors, dessen neuer Schuh, der Adizero Adios Pro Evo 1, mir heute einen Extra-Boost gegeben hat“, kommentierte die Siegerin und fügte an: „Ich könnte nicht glücklicher sein!“
Erklärungen für den gigantischen Sprung sind ad hoc diffizil, der Fortschritt der technologischen Innovation unter ihren Füßen kann erst besser eingeschätzt werden, wenn es unabhängige wissenschaftliche Erkenntnisse gibt. Aber Assefa, offensichtlich ein Ausnahmetalent auf die Marathon-Distanz beschränkt, perfekt und in Harmonie mit ihren persönlichen, männlichen Pacemakern über Monate hinweg vorbereitet, war nicht die einzige adidas-Athletin in Berlin, die über sich hinauswuchs. Amanal Petros beispielsweise flog zum deutschen Rekord in unter 2:05 Stunden, ebenfalls ohne Weltklasse-Vorleistungen auf Unterdistanzen, die dafür irgendwie logisch wären.
Weltrekordentwicklung bei den Frauen ab 1983
* Anm.: bis 2022 Weltbestleistung
Auch ein Blick in die statistischen Daten zeigt die herausragende Leistung Assefas. Als Athletin verbesserte zuletzt die britische Lauflegende Paula Radcliffe den Marathon-Weltrekord um über drei Minuten, allerdings in zwei Etappen. Ihr immer noch gültiger Europarekord hielt über 16 Jahre als Weltrekord. Davor war es die Norwegerin Ingrid Kristiansen, die beim London Marathon 1985 ihren eigenen Weltrekord um drei Minuten und 20 Sekunden pulverisierte. Dieser hielt 13 Jahre. Nie mehr gab es nachher so einen riesigen Schritt. Bereits jener von Radcliffe auf Kosgei war mit 1:21 Minuten ein Quantensprung, nun folgt jener mit 2:11 Minuten. Und: Die Schallmauer von 2:10 Stunden ist nicht einmal mehr zwei Minuten entfernt.
Im Vergleich zu allen anderen folgenden war der erste 5km-Split der Frauen-Spitze in 15:58 Minuten noch fast lächerlich für die Gesamtleistung der Siegerin, wenngleich das schon ein rasantes Tempo ist. Es folgte eine Beschleunigung und die erste Halbmarathon war nach einer Zeit von 1:06:20 Stunden vorbei. Es ist die zweitschnellste Marathon-Angangshälfte der Geschichte nach jener von Ruth Chepngetich (1:05:44) 2022 in Chicago. Was aber noch eindrucksvoller ist: Nicht weniger als sechs Athletinnen (!) gingen in Berlin unter 1:07 Stunden in die zweite Marathon-Hälfte, alle waren also unter dem Weltrekordsplit. Während Chepngetichs sich in Chicago damals übernommen hatte und auf der zweiten Hälfte ihrem irren Angangstempo Tribut zollen musste, passierte das in Berlin nicht.
Assefa hatte sich, perfekt abgeschirmt von den Tempomachern, schon vor Kilometer 20 vom Rest des starken Elitefelds abgesetzt und schaltete spätestens nach der Zwischenzeit bei Kilometer 25 auf absolutes Vollgas. U.a. holte die Gruppe des US-Amerikaner Jared Ward, 2016 Olympia-Sechster, zwischenzeitlich ein. Fast drei Minuten Vorsprung auf Sheila Chepkirui hatte die Äthiopierin bei Kilometer 35, viereinhalb bei Kilometer 40. Der Weltrekord war fixiert, doch Assefa machte keine Anstalten, auch nur eine Zehntelsekunde herzugeben. Das Teilstück von Kilometer 40 bis ins Ziel absolvierte sie fast so schnell wie Eliud Kipchoge einige Minuten zuvor als Sieger des Männerrennens. Wenngleich der Kenianer in der Schlussphase die „langsamste“ Geschwindigkeit seines Rennens aufwies, ist diese Feststellung beinahe absurd. Wahrscheinlich hat noch nie eine Läuferin das Teilstück von Kilometer 40 ins Ziel so schnell absolviert wie Tigist Assefa: in 6:40 Minuten. Das entspricht einer Pace von 19,75 km/h, einem Kilometersplit von 3:03 Minuten. Nur die Minderzahl der Passagen im Rennen hat die Siegerin in einem Kilometersplit von über 3:10 Minuten absolviert. Ihr Halbmarathon-Split von 1:05:33 Stunden für die zweite Hälfte ist historisch – vor zehn Jahren hätte dieser Split einen neuen Halbmarathon-Weltrekord bedeutet.
Die ewige Weltbestenliste im Marathon der Frauen (Top-Ten)
Nicht weniger als zwölf Athletinnen lagen nach zehn Kilometern unterhalb des Weltrekord-Splits, einiges rückte sich im Laufe des Rennens gerade. „Best of the Rest“ wurde Sheila Chepkirui, die auch ihren dritten Karriere-Marathon mit einer Klassezeit beendete. Eine Leistung von 2:17:49 Stunden, 20 Sekunden hinter dem eigenen „Hausrekord“, hätte beim Berlin Marathon bis inklusive 2021 immer zum Sieg gereicht. Nun bedeutet sie sechs (!) Minuten Rückstand auf die Siegerin. Die drittplatzierte Magdalena Shauri wurde vom Berlin Marathon in der Medienarbeit nicht einmal im Elitefeld geführt, trotz ihres Landesrekords für Tansania beim RAK Halbmarathon 2020 und weiteren Halbmarathon-Leistungen im Bereich zwischen 1:06:30 und 1:07:10 Stunden. Deshalb, weil ihre Marathon-Bestleistung, allerdings sechs Jahre alt, bei einer Zeit von 2:33:28 Stunden lag. Nun ist die 27-Jährige neue Landesrekordhalterin von Tansania in 2:18:41 Stunden, eine Verbesserung des nationalen Rekords um über sechs Minuten (bisher Banuelia Katesigwa, Tokio 2002).
Die Liste der hochklassigen Leistungen lässt sich fortführen: Zeineba Yimer, Senbere Teferi (Bestleistung um knapp fünf Minuten, allerdings war der bisherige Wert ihre Klasse nicht repräsentativ, Anm.), Dera Dida, Workenesh Edesa und die in der Schweiz lebende Helen Bekele, alle aus Äthiopien, schenkten dem Berlin Marathon acht (!) Leistungen unter 2:20 Stunden. Das hat es in der Marathon-Geschichte bisher noch nie gegeben. Beim Valencia Marathon 2022 waren es sieben Läuferinnen, damals gar alle unter 2:19 Stunden. Es sind nun 70 Läuferinnen in der Geschichte, die eine Marathonzeit unter 2:20 Stunden geschafft haben, 34 davon stammen aus Äthiopien.
Beste Europäerin beim Berlin Marathon 2023 war die Britin Charlotte Purdue, die ihr Ziel einer persönlichen Bestleistung realisierte und nun bei einer Zeit von 2:22:17 Stunden angekommen ist. Die 32-Jährige ist nun die zweitschnellste britische Marathonläuferin aller Zeiten hinter Paula Radcliffe. Eine beachtliche neue persönliche Bestleistung erzielte Malindi Elmore, die sich im Alter von 43 Jahren um 80 Sekunden verbesserte und nur um 18 Sekunden am beim Berlin Marathon 2022 aufgestellten kanadischen Rekord der eineinhalb Jahre jüngeren Natasha Wodak vorbeischrammte. Beachtlich ist auch die mehrminütige Steigerung der Kolumbianerin Angie Orjuela, die in einer Zeit von 2:25:35 Stunden den südamerikanischen Kontinentalrekord von Gladys Tejeda aus Peru unterbot und die Olympia-Qualifikation in der Tasche hat.
Aus dem starken deutschen Team beim Berlin Marathon schaffte Domenika Mayer die herausragende Leistung. Zwei gleichmäßige Marathon-Hälften führten sie zu einer Endzeit von 2:23:47 Stunden und damit zu einer Verbesserung ihrer Bestleistung um drei Minuten, welche für Rang 14 im dichten Feld des Wettkampfs führte. „Ich wusste, dass ich das laufen kann. Das Training war gut, alle Werte stimmten“, analysierte die Deutsche nüchtern. Die 33-Jährige, zuletzt mit zwei starken Wettkampfleistungen auf österreichischem Boden (Zweite beim Linz Marathon, Fünfte im Mountain Classic bei der WMTRC in Innsbruck), schob sich vorbei an Melat Kejeta auf Rang zwei der ewigen deutschen Bestenliste hinter Irina Mikitenko und ist in einer vorzüglichen Position für die Olympia-Nominierungen des Deutschen Leichtathletik-Verbandes im nächsten Jahr. Deborah Schöneborn und Laura Hottenrott dagegen blieben etwas hinter ihren Wünschvorstellungen zurück, dennoch jeweils deutlich unter 2:30 Stunden.
Einen neuen Schweizer Rekord markierte Fabienne Schlumpf, die in einer Zeit von 2:25:27 Stunden ihren eigenen Landesrekord um 47 Sekunden verbesserte. Die 32-Jährige absolvierte in der deutschen Hauptstadt den fünften Marathon ihrer Karriere, zum zweiten Mal nach dem VCM 2021 bei einem City-Marathon, und den ersten internationalen Wettkampf seit ihrem neunten Platz bei den Europameisterschaften von München. Bei den Olympischen Spielen in Sapporo belegte sie Rang zwölf. Im Interview mit der übertragenden Schweizer TV-Anstalt sprach Schlumpf von den besten zwei Stunden und 25 Minuten ihrer bisherigen Karriere. Sie will noch heuer ihren nächsten Marathon laufen, am 3. Dezember in Valencia.
Beste Österreicherin beim Berlin Marathon war Carola Bendl-Tschiedl (LG Wien), die eine persönliche Bestleistung von 2:46:40 Stunden erzielte (Brutto: 2:47:11) und damit sich locker in den Top-100 platzierte. In der Altersklasse W45 war die Österreicherin die Drittschnellste – eine beachtliche Leistung!
Im Vorfeld des mit 48.000 Anmeldungen aus 156 Nationen so internationalen Berlin Marathon nie hat es im Vorfeld von der so genannten „Letzten Generation“ Drohungen von Störaktionen gegeben. Letztendlich blieb ein unangemeldeter Demonstrations- und Anklebeversuch mit Banner und oranger Farbe auf der Straße des 17. Juni unweit des Massenstarts dank des raschen Handelns der Sicherheitskräfte kläglich, wie mehrere deutsche Medien berichteten, und die Läuferinnen und Läufer konnten ungestört ihrer Lauf- und Marathonleidenschaft nachgehen. Auch weitere Störversuche entlang der Strecke sollen verhindert worden sein. 31 Festnahmen protokollierte die Berliner Polizei, den Betroffenen droht eine Ordnungsstrafe in Höhe von 2.000 Euro.
Ein ähnliches Störvorhaben wurde im April vor dem Start des Vienna City Marathon dank vergleichbar schnellem Handeln der Einsatzkräfte ebenso verhindert.
* neuer Weltrekord
** neuer Landesrekord für Tansania
*** neue persönliche Bestleistung
**** neuer Schweizer Landesrekord
***** neuer Südamerikarekord
****** Marathon-Debüt