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24 Jahre alt, alles erreicht, ein Star – es sind Schlagworte, die selbst in Kenia im Ausdauersport Laufen selten geschrieben werden. Conseslus Kipruto, hochtalentiert, kam, sah, lernte von Superstar Ezekiel Kemboi, dem er als 18-Jähriger bei seiner WM-Premiere in Moskau und zwei Jahre später bei dessen viertem WM-Titel in Peking den Vortritt lassen musste, und siegte darauf in Serie: Olympisches Gold in Rio 2016, WM-Gold in London 2017, Gold bei den Commonwealth Games und den Afrikameisterschaften 2018. Junioren-Weltmeister war er selbstredend auch und zwar im Alter von 17. Es blieben wirklich keine Fragen offen, außer vielleicht jene, wie lange diese Dominanz andauern würde und welche geschichtsträchtigen Rekorde vor dem Kenianer sicher blieben?
2019 bekam der glänzende Lack erste Kratzer. Nach von Verletzungen geprägten Monaten verpasste Kipruto bei seinen Diamond-League-Auftritten die Top-Drei und lief Zeiten jenseits der 8:10 Minuten. Das war ihm jahrelang nur in Ausnahmefällen passiert, zumeist, nämlich nicht weniger als 15mal, siegte er auf der höchsten Meetingbühne – auch wenn der Verletzungsteufel ihn immer öfters heimsuchte. Doch der Kenianer hatte seinen Formaufbau so hinbekommen, dass er bei den Weltmeisterschaften in Doha im harten Duell gegen den aufstrebenden, jungen Äthiopier Lamecha Girma erneut der Titelträger war. Wenn auch denkbar knapp. Dafür musste er die zweitschnellste Zeit seiner Karriere anbieten – es ist übrigens sein einziges Manko, noch nie unter acht Minuten gelaufen zu sein.
Der bisher letzte große Sieg des Kenianers war der Startpunkt eines Abstiegs. 2020, als die Pandemie für einen Stopp der Hindernislauf-Szene sorgte, erlebte der Kenianer seinen Tiefpunkt. Im November fahndete die kenianische Polizei tagelang nach dem Hindernislauf-Star und nahm ihn anschließend fest. Er musste sich gegenüber dem Vorwurf rechtfertigen, in einer sexuellen Beziehung mit einer Minderjährigen gewesen zu sein, was laut kenianischem Recht ähnlich schwer bestraft wird wie eine Vergewaltigung. Die Anklage lautete Vergewaltigung einer angeblich 15-Jährigen, die nach drei Tagen wieder bei ihren Eltern aufgekreuzt war. Kipruto plädierte auf unschuldig und kaufte sich per Kaution frei, die sexuelle Beziehung stritt er erst gar nicht ab, argumentierte aber auf Freiwilligkeit und, vom Mädchen ob ihres Alters getäuscht worden zu sein.
Die laufenden Ermittlungen bremsten seine internationale Sportkarriere gemeinsam mit einem positiven COVID-19-Test im Sommer 2021 gen Stillstand ab, allerdings sah der kenianische Verband Möglichkeiten für eine Olympia-Nominierung. Die Spiele fanden dennoch ohne ihn statt, weil er sich für die Kenya Trials nicht rechtzeitig in Form bringen konnte. Die Entscheidungsfindung vor Gericht verzögerte sich im Sommer 2021, neuere Erkenntnisse lassen auf sich warten. Schmerzhaft sei es gewesen, die Olympischen Spiele am Fernseher zu verfolgen, es habe für einige Zeit Motivationsprobleme verursacht, sagte Kipruto vergangenes Jahr der BBC.
Aber er habe den Tatendrang wiedergefunden, der Formaufbau für die Saison 2022 erforderte Geduld, auch weil er von einer Verletzung regenerieren musste. Nun ist Kipruto in Eugene, als Titelverteidiger hatte er keine Qualifikationssorgen. Obwohl er sich stetig verbesserte, gelangen noch keine Top-Platzierungen in der Diamond League. Weswegen der Kenianer im heutigen WM-Finale (morgen früh um 4:20 Uhr MEZ) Außenseiter ist. „Ich hoffe, dass nach diesen Weltmeisterschaften die ganze Welt wieder Respekt vor den kenianischen Hindernisläufern hat. Wir haben ein starkes Team und wir glauben an uns, die Goldmedaille wieder heimzubringen“, so der mittlerweile 27-Jährige gegenüber „Capital Sport“. In 17 WM-Entscheidungen bisher gab es 13 kenianische Sieger plus zwei Erfolge des von katarischem Geld umworbenen Saif Saaeed Shahen, der gebürtige Kenianer Stephen Cherono. Dazu zwölf Silber- und fünf Bronzemedaille, zweimal gelang der Sweep (dreimal mit Shaheen). Keiner stellt die Frage, wer historisch die dominierende Nation in dieser Disziplin ist.
Die Gegenwart spricht aber eine andere Sprache. Kipruto in Topform ist der einzige Kenianer mit dem Format für internationale Titel, Benjamin Kigen, der bei den Spielen Bronze gewann, ist hier in Eugene nach enttäuschenden letzten Wochen im Vorlauf rausgeflogen. Die Weltspitze dominieren seit den Weltmeisterschaften von Doha Soufiane El Bakkali aus Marokko und Lamecha Girma, dem im Juni das historisch einzigartige Kunststück gelungen ist, binnen zehn Tagen drei 3.000m-Hindernisläufe unter acht Minuten zu absolvieren. Das qualifiziert ihn für höchste Berufungen, aber es gibt ein Problem. Die letzten vier direkten Duelle gegen El Bakkali hat Girma allesamt verloren. Während der Marokkaner diese vier Wettkämpfe allesamt gewann, war der Äthiopier dreimal Zweiter. Lässt man den Vorlauf der WM 2019 beiseite, hat Girma seinen Dauerrivalen in sieben Gelegenheiten erst einmal besiegt: im WM-Finale von Doha, als er in damaliger äthiopischer Rekordzeit Silber hinter Kipruto und vor El Bakkali gewann.
Dem Marokkaner fehlt nach Silber in London und Bronze in Doha nur noch Gold zur kompletten WM-Medaillensammlung. Der 26-Jährige ist nicht nur deshalb der erklärte Favorit, weil er seine einzigen beiden Wettkämpfe in dieser Saison in der Diamond League in Doha und vor heimischem Publikum in Rabat gewann oder weil er überhaupt seit fast drei Jahren nur zwei Wettkämpfe nicht gewonnen hat, sondern auch deshalb, weil seine Schlussrunde so eindrucksvoll ist. Mit seinen langen Beinen und guter Technik kann der Marokkaner so entschlossen über die letzten Wassergräben und Hindernisse springen und dann vom letzten Hindernis bis ins Ziel so brachial beschleunigen, wie es sein Hauptrivale nicht kann – bzw. bisher noch nicht gezeigt hat. Und der Olympiasieger hat ein enormes Selbstvertrauen, wie er nach dem Vorlauf demonstrierte: „Ich habe ein einziges Ziel: Gold!“
Womit sich auch Fragen der taktischen Renngestaltung ergeben: Angesichts der Stärke in der Schlussrunde hätte Girma in einem sehr schnellen Rennen wohl bessere Karten in der Hand. Aber wer außer ihm sollte in der Lage sein, dieses zu organisieren? Kipruto hat wohl null Interesse daran, El Bakkali genauso wenig. Und in einem langsameren Rennen wäre der Favoritenkreis wohl größer.
Spulen die beiden jene Leistungen ab, die dem Niveau ihrer bisherigen Saisonauftritte entspricht, ist es schwierig vorstellbar, dass die beiden mit Abstand Weltjahresschnellsten nicht den WM-Titel unter sich ausmachen. Auch wenn ein WM-Rennen ohne Tempomacher immer einige Fragezeichen in der Renngestaltung aufwirft. Der 3.000m-Hindernislauf ist nach zwei schwachen Jahren, wenn man auf die Weltjahresbestenliste blickt (2020 Pandemie bedingt, aber die Weltjahresbestleistung 2021 war die langsamste seit fast drei Jahrzehnten!), wieder en vogue – mit erstmalig mehr als einer Leistung unter acht Minuten seit einer Dekade.
Die Kenianer hatten bisher keine prächtige Hindernislauf-Saison, doch wie Kipruto konnte auch Abraham Kibiwot zuletzt aufsteigende Form nachweisen. Der Titelverteidiger machte seinen Landsleuten in einem Zeitungsbericht in der „Daily Nation“ Mut, WM-Rennen seien anders als Diamond-League-Rennen und Landsmann Leonard Bett sprach von einem langen Trainingscamp, das darauf abzielte, El Bakkali und Girma zu fordern. Die beiden weiteren Äthiopier Hailemariyam Tegegn und Getnet Wale haben ebenfalls ein gutes Niveau für Medaillenambitionen. Dazu kommt Evan Jager, WM-Silbermedaillengewinner von London 2017, dessen Leistungsfähigkeit nach fast vier Jahren Pause (siehe Details im RunAustria-Bericht über den Vorlauf) nicht eindeutig einschätzbar ist, wenngleich eine Medaille schon eher eine Sensation bedeuten würde. Die Nummer eins der USA ist gegenwärtig Hillary Bor, der zuletzt in Abwesenheit und heuer in Anwesenheit Jagers die Trials regelmäßig für sich entschieden hat und 2021 in Gateshead einen Diamond-League-Sieg erringen konnte. „Ich fühle mich gut. Die Fans waren unglaublich, das gibt mir enorme Energie“, sagte der gebürtige Kenianer nach dem Vorlauf. Bei der letzten WM 2019 war Bor Achter.
Mit den beiden Spaniern Sebastian Martos und Daniel Arce, dem Franzosen Mehdi Belhadj und dem Italiener Ahmed Abdelwahed, der momentan die europäische Jahresbestenliste anführt, haben es vier europäische Läufer ins Finale geschafft. Im Vorlauf stark zeigte sich der Eritreer Yemane Haileselassie. Für einen Farbtupfer sorgt, weil diese Landesflagge in WM-Finals von Laufdisziplinen sehr selten vorkommt, der indische Rekordhalter Avinash Sable, dessen Präsenz in diesem Finale angesichts seines Niveaus der vergangenen Jahre freilich überhaupt keine Überraschung ist.