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Der Körper wird ein anthropotechnisches Wunderding

Die Digitalisierung stürzt alles um: Körperideale, Events, Sportkulturen. Ist das Zukunftsmusik? Oder eh schon längst normal? RunUp hat mit Sportwissenschaftler Rudolf Müllner von der Universität Wien über die Veränderung des Sports, die „Instagramisierung der Gesellschaft“, Fitness als Pflicht und E-Sports bei Olympischen Spielen gesprochen.

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Die Digitalisierung stürzt alles um: Körperideale, Events, Sportkulturen. Ist das Zukunftsmusik? Oder eh schon längst normal? RunUp hat mit Sportwissenschaftler Rudolf Müllner von der Universität Wien über die Veränderung des Sports, die „Instagramisierung der Gesellschaft“, Fitness als Pflicht und E-Sports bei Olympischen Spielen gesprochen.

RunUp: Was halten Sie von folgendem Zukunftsbild? Neue Technologien, attraktive Apps und das allgemeine Bewusstsein für einen gesunden Lebensstil wirken so stimulierend, dass in zehn Jahren mehr Menschen als je zuvor aktiv Sport betreiben.

Rudolf Müllner: Als Pädagoge wäre genau das wünschenswert! Wenn man die realen Zahlen anschaut, sieht man aber, dass noch immer massenhaft Leute inaktiv sind. Da ist Skepsis geboten. In den 1960er-Jahren hat die Entwicklung begonnen, dass sich Menschen jeden Alters fit halten sollen. Zum Beispiel ein Toni Sailer hat sich in den 1950er-Jahren noch dafür geniert, dass er trainieren gegangen ist. Es ist heute normal, dass man sich bewegt, um sich gesund zu halten. Es ist selbstverständlich, auch weil die körperliche Belastung im Beruf immer geringer wird. Die Apelle der Mediziner sind natürlich richtig. Aber man muss hinterfragen, ob nicht nur das öffentliche Getrommel stärker wird, aber weniger die tatsächliche Sportausübung. Die USA sind sportverrückt und führend in vielen Bereichen der Informationstechnologie, aber gleichzeitig sind sie das Land mit den meisten adipösen Menschen der Welt. Vielleicht wird sogar die Inaktivität mehr? Wie viele Hometrainer, Apps, Sportuhren wurden verkauft und sind aber ungenutzt?

Sport-Apps, Fitness-Tracker, Social Media, E-Sports: Verändert die Digitalisierung den Sport und die aktive Sportausübung? Oder sind es nur technische Spielereien, die keinen großen Einfluss haben?

Ich denke schon, dass es ein massiver Einschnitt ist. Es sind permanent und überall verfügbare Feedback-Systeme, die hier zur Anwendung kommen. Man erhält ständig Rückmeldungen über seine Leistung und seinen Status. Das ist in der Dichte und Schnelligkeit neu. Das ist sicher ein Schub für die Praxis unter denjenigen, die es einsetzen. Es steht ein ständiges Objektivierungsinstrument zur Verfügung, mit dem man präziser steuern kann. Im Hochleistungssport hatte man schon lange aufwändige Messsysteme. Im Breitensport ist es nun ein Informationsformat, das eine vermeintliche Objektivierung einführt. Die Messung ist natürlich objektiv, aber was jemand damit macht, ist seine subjektive Reaktion.

Kann Sport dadurch für neue Schichten attraktiv werden?

Es gibt technikaffine Menschen, die sich gerne mit Kurven, Tabellen, Listen beschäftigen und ihr Handeln objektivieren. Auf diese Weise werden sicher neue Schichten für den Sport angesprochen. Apps sind ja auch motivierend und schicken aufmunternde Sprüche, auch eingespeist in soziale Medien und virtuelle Gruppen. Aber ich würde den Effekt nicht überschätzen. Unter jenen, die ohnehin Sport betreiben, werden es welche gut integrieren, andere werden es ignorieren. Es hat hohen Aufforderungscharakter. Für manche wird es hilfreich sein in der Praxis, weil es eine Struktur schafft. Für manche wird es nervig sein.

Wo liegt der Antrieb, den Fitness-Apps auslösen im Bereich von Freiwilligkeit, Arbeitsaufgabe, pädagogischem Appell und gesellschaftlicher Pflicht?

Klar ist, dass es keine zentrale Macht gibt, die sagt: „Du musst!“ Das würde in der individualisierten Freizeitgesellschaft nicht mehr funktionieren. Es ist eine stimulierende Geschichte: „Du bist gut, du bist attraktiv, wenn du dieses und jenes machst oder kaufst.“ In der Theorie sprechen wir vom Übergang von einer repressiven zu einer stimulierenden Kontrolle, wie Deleuze und Foucault das beschreiben. Das Individuum gibt sich selbst die Ziele vor. Die Ziele werden aber teilweise extern bestimmt. Körper- und Fitnessnormen werden nicht individuell erdacht, sondern sind in der Gesellschaft wirksam. Wir haben es mit einer paradoxen Situation zu tun. Es gibt so viele Freiheiten und Wahlmöglichkeiten wie noch nie, und gleichzeitig gibt es einen großen Verpflichtungsgrad, sich fit zu halten. Der wird über weite Strecken nicht als Zwang oder Kontrolle empfunden, weil es so selbstverständlich geworden ist. Neue Geräte und Technologien helfen, diese Kontrolle über sich selbst am eigenen Körper zu implementieren.

Gibt es durch Social Media eine Verschiebung von der sportlichen Leistung zur Äußerlichkeit? Nach dem Motto: „Hauptsache, ich habe ein gutes Bild, das ich auf Instagram posten kann?“

Ganz sicher. Im Zuge der Individualisierungsprozesse ist das äußere Erscheinungsbild extrem wichtig geworden. Der Körper ist eine Art „Bio-Aktie“, die einen hohen ikonographischen und symbolischen Stellenwert hat, den man nicht überschätzen kann. Das kann man leicht daran abmessen, wie viel ausgegeben wird für Kosmetik und Schönheitschirurgie, aber auch wie viele Essstörungen es gibt, und welcher Aufwand betrieben wird, um den Körper in gewisse Idealformen zu bringen.

Einen „guten“, attraktiven Körper zu haben, ist so wichtig, wie es überhaupt noch nie in der Geschichte der Menschheit war. Was dazu kommt: Ich bin selbst verantwortlich dafür. Im Rückschluss heißt das: Ich habe meinen attraktiven Körper selbst hergestellt, zum Beispiel einen sportlich-dynamischen „hard body“ mit Sixpack, den auch Frauen im Fitnessbereich immer mehr zeigen müssen. Mit meinem selbsttechnologisch hergestellten Körper signalisiere ich: Schaut her, ich bin diszipliniert, ich bin gesund, ich bin leistungsfähig, ich bin ein High-Performer. Es besteht eine große Analogie zwischen Wirtschaft und einer generellen Upgrade-Kultur in unserer Gesellschaft. Es reicht nicht, dass ich einfach da bin, sondern ich muss super sein. In der Schule, im Beruf, im Sex. Dafür muss ich etwas tun. Mit einem sportlich attraktiven Körper wird eine große Dichte an Botschaften vermittelt. Das ist eine Trade-­Mark, die ich mit mir trage. Darum ist das auch so bedeutend.

Können die vielfach verbreiteten fitten Körperbilder auch eine Abkehr vom Sport bewirken und Frustration auslösen, weil sie für viele nicht erreichbar sind?

Es erzeugt auf viele Menschen massiven Druck, weil sie diese Idealkörper nie erreichen können, weil sie genetisch nicht so disponiert sind. Auch die soziale Stellung ist ein Thema. Wir wissen, dass sozial schwächere Schichten überdurchschnittlich adipös sind. Das hängt mit geringerer Bildung zusammen, schlechterem Zugang zu gesunden Lebensmitteln, zu Fitnessmöglichkeiten, zum dazugehörigen Lebensstil. Die Fülle an Idealkörpern hat hohe normative Wirkung. Das bedeutet Druck. Man kann das an der Zahl der Essstörungen ablesen, zunehmend auch bei Burschen. Es gibt die Angst vor einem nicht genügend „guten“ Körper. Psychiater sprechen von körperdysmorphen Störungen.

Ich kenne Jugendliche, die mit Fußball aufgehört haben und stattdessen ins Fitnessstudio gehen, weil sie herzeigbare Muskulatur bekommen wollen. Das hat auch mit der permanenten „Instagramisierung“ der Gesellschaft zu tun. Man stellt den Körper auf eine virtuelle Bühne. „Be your own star! Kreiere dein Leben! Sei dein eigener Held!“ Du bist Darsteller deiner eigenen Biografie. Damit musst du auch deinen Körper herstellen. „Im Leistungssport investiere ich den Körper in den Sport. Im Fitnesssport investiere ich den Sport in den Körper“, sagen die zwei Schweizer Soziologen Lamprecht und Stamm.

Beim „Leistungssport“, auch für Hobbysportler gedacht, geht es um ein Ergebnis zum Beispiel im 800-m-Lauf. Beim „Fitnesssport“ geht es darum, die Optik des Körpers zu verbessern.

Wofür stehen Sportler im Zeitalter der Digitalisierung? Als der legendäre finnische Läufer Paavo Nurmi 1928 in Wien gestartet ist, wurde er in fast allen Medien als „Maschine“ beschrieben, die nie ermüdet. Emil Zatopek galt als die „tschechische Lokomotive“, auch wegen seines kämpferischen Laufstils. Entstehen nun neue Metaphern vom Sportler an sich?

Es geht heute um noch mehr Dynamik und Beschleunigung, perfektere und schnellere Körper. Es ist ein auf-die-Spitze treiben. Das drückt eine Perfektionierung auf höchstem technologischem Niveau aus, ein Maximum der Machbarkeit. Der Körper wird ein anthropotechnisches Wunderding. Die Maschinenmetapher im Sport war Ende des 19. Jahrhunderts und danach sehr präsent. Gedacht wurde dabei an eine Lokomotive oder an die Dampfmaschine. Die „Maschine“ des 21. Jahrhunderts ist der Computer. Seine Eigenschaft ist die nahezu unvorstellbare Geschwindigkeit.

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