Vergangenen Mittwoch, kurz nach Dreiviertel Drei nachmittags an der Elferhütte hoch über Neustift im Stubaital. Andrea Mayr (SVS Leichtathltik) sorgte mit ihrem Sieg beim Vertical der World Mountain and Trail Running Championships für einen sporthistorischen Moment. Der Rekord-Weltmeistertitel, ihr erster auf heimischem Boden, allseits umjubelt. In einer Dramaturgie des Rennens, die vom Drehbuch kaum spannender hätte ablaufen können.
Die Männer hatten ihren Wettkampf schon abgeschlossen und bildeten gemeinsam mit den Delegationen aus unterschiedlichen Ländern und Tausenden Fans das Spalier entlang des Zielhangs. Manuel Innerhofer feuerte an, der zweifache Weltmeister Joseph Gray wies ihr den Weg, als sie in der Konzentration beinahe vom Pfad abkam, Martin Mattle reichte ihr wenige Meter vor dem Ziel die österreichische Flagge. Hans-Peter Innerhofer schrieb ihr eine emotionale Glückwunsch-Nachricht. Alle bestaunten die Oberösterreicherin, die ihren Legendenstatus im Berglauf noch einmal erhöhte. Mit 43 Jahren. „Gestern habe ich meine Familie gefragt: Hättet ihr, nicht in den letzten Wochen, sondern vor drei oder vier Jahren, wirklich gedacht, dass ich es noch einmal schaffen könnte, Weltmeisterin, zu werden?“, erzählte Mayr. „Ich fürchte“, gab sie zu, „in meinem Inneren selbst nicht mehr daran geglaubt zu haben.“
RunAustria: Alle, die am Mittwoch vor Ort waren oder das Rennen im Fernsehen verfolgt haben, haben deine Emotionen im Zielraum gesehen und erlebt. Einige waren nachher der Meinung, dich noch nie so emotional gesehen zu haben…
Andrea Mayr: „(lacht) Mein Trainer, Hubert Millonig, hat gemeint, ich war total in einem Rauschzustand.“
Das waren die Emotionen nach außen. Kannst du bitte schildern, wie es innen in dir drin in diesen Minuten ausgeschaut hat. Welche Emotionen haben dort gewirkt?
„Es ist schon eine lange Zeit her, dass ich meinen letzten WM-Titel gefeiert habe. Der letzte im Berglauf war 2016, dazwischen die beiden WM-Titel im Skibergsteigen waren quasi zum Überbrücken. Im Vorfeld dieser WM ist der Gedanke immer, immer stärker geworden: ,Ich würde wirklich, wirklich, wirklich gerne noch einmal die Hymne hören’. Eine Medaille wäre wahnsinnig toll gewesen für mich, mit meinem Alter ein wahnsinniger Erfolg. Es war sensationell, dass es vor heimischem Publikum gelungen ist, wo mich so viele Leute angefeuert haben.
Grundsätzlich betreibt man Spitzensport in erster Linie für sich selbst. Ich habe aber einmal bei einem Rennen in Nigeria erfahren müssen, wie es ist, wenn man sich nur für sich selbst freuen kann. Das war 2008, ein relativ flacher, asphaltierter Berglauf gegen hochkarätige Gegnerinnen mit starken Afrikanerinnen – eine Halbmarathon-Weltmeisterin, eine aktuelle Halterin der 15km-Weltbestleistung, eine Crosslauf-WM-Medaillengewinnerin. Ich hätte damals nicht einmal ansatzweise gedacht, diese Läuferinnen besiegen zu können. Natürlich haben mich die Leute angefeuert und sich mit mir gefreut, aber es war niemand dort, den ich gekannt hätte. Es gab auch keine Telefonverbindung, dass ich zuhause anrufen hätte können. Das war eine sehr einsame Freude. Am Mittwoch war das der komplette Kontrast dazu. Die geteilte Freude der anderen, das hatte eine sehr emotionale Wirkung in mir.“
Würdest du diesen Triumph am Mittwoch, auch durch die Komponenten Heim-WM, eine tolle Live-Übertragung des Wettkampfs, als einen oder sogar den Höhepunkt deiner Karriere bezeichnen?
„Ich bin mir nicht ganz sicher. Im Moment, natürlich, ist es das Absolute, das Größte, das Präsenteste. Ich müsste meine ganze Karriere in Ruhe rekapitulieren, um das genau einschätzen zu können. Sehr emotional und für mich enorm wertvoll war damals der Sieg beim Vienna City Marathon. Aber in diesen Tagen wird mir schon auch von außen gezeigt, dass dieser Erfolg sehr besonders ist. Ich wohne ja jetzt nicht im allerkleinsten Kaff, wo jeder jeden kennen würde. Aber als ich heute Morgen Brot holen gegangen bin, hat der Ladenbesitzer, gerade beim Wegfahren, die Fensterscheibe seines Autos hinuntergelassen und in die Bäckerei geschrien, um mich auf einen Kuchen einzuladen. Wenige Minuten später kurbelt der Straßenbahnfahrer in der Haltestelle die Scheibe hinunter und gratuliert mir, während ich mit dem Rad vorbeigefahren bin. Solche Episoden habe ich noch nie erlebt. Spannend, wie viele, die ich gar nicht kenne, den Sieg mitbekommen haben, auch Leute, die sich überhaupt nicht für Sport interessieren, haben mir Gratulationen zukommen lassen. Unfassbar viele! Ich habe auch unglaublich viele Glückwünsche auf das Handy bekommen. Ich trenne prinzipiell Sport und Beruf strikt, alleine wer im Krankenhaus alles die WM verfolgt hat, sprengt alles bisher Dagewesene.“
Diese Erzählungen, die du recht stimmungsvoll und lebendig wiedergibst, harmonieren mit deinen Emotionen, die du im Ziel geäußert hast. Sind das Indikatoren dafür, dass in diesem Moment ein großer Druck von deinen Schultern abgefallen sind?
„Natürlich hat sich ein Druck aufgebaut und ich habe mich sehr bemüht, den von außen nicht so sehr an mich heranzulassen. Eine Woche vor der WM hat das schon ein bisschen meine Nerven strapaziert, auch weil ich gedacht habe: ,Letztes Jahr war die WM in Thailand und niemand, wirklich niemand, hat sich ansatzweise weder vor noch nachher dafür interessiert.’ (Andrea gewann WM-Silber, Anm.) Und plötzlich taten alle so, als wäre dieses Mal plötzlich alles anders, obwohl WM gleich WM ist. Am Tag davor hab ich dann wirklich mein Handy meinem Lebenspartner gegeben. Ich wollte die Frage ,Wie bist drauf?’ nicht mehr hören. Ehrlicherweise, weil ich selbst nicht glauben konnte, wie gut ich drauf war. Auch Hubert hat mir nachher gesagt, die Art meiner Feedbacks der Trainingseinheiten waren ungewohnt und er hat den Schluss daraus gezogen, dass ich wirklich viel drauf haben musste.
Ich war selbst baff. Bei der vorletzten Einheit auf den Erlakogel, wo ich die WM-Strecke mit einem zusätzlichen Flachstück simuliert habe, habe ich – abzüglich dieser Forststraßen-Passage – meinen persönlichen Streckenrekord um eine Minute und zehn Sekunden unterboten. Das war so drastisch, dass es mich fast verunsichert hat, dass ich mich über meine Superform kaum freuen konnte. Beim Abschlusstraining auf den Grünberg dann, wirklich meine Hausstrecke, der Berg, auf den ich in meinem Leben am alleröftesten gelaufen bin, hat sich richtig gut angefühlt und ich war so gut drauf. Ich hab mich gar nicht getraut, das öffentlich zu machen, weil ich diese Zeichen mir selbst gegenüber kaum zuzugeben getraut habe.“
Wie erklärst du dir das? Du hast ja am Mittwoch mit Recht in den Interview betont, dass du keine 35 mehr bist und wir kennen die logischen Rhythmen der Entwicklung der Leistungsfähigkeit im Bezug auf das Alter im Spitzensport. Wie hast du dich in so eine herausragende Form gebracht und auch noch Trainingsbestzeiten aufgestellt?
„Ich weiß es nicht. Ich habe keine Erklärung, ich könnte nur philosophieren. Vielleicht hat meine Pflegetochter bei mir hormonell etwas ausgelöst, was wir von Athletinnen kennen, die nach einer Schwangerschaft stärker sind als davor, was ja nur eine hormonelle Ursache haben kann. Aber ich weiß es nicht. Ist die Vorbereitung heuer besonders gut gelungen? Habe ich mich mehr gequält? Nur eines kann ich sicher sagen: Im vergangenen Winter habe ich so fleißig auf der Walze trainiert wie noch nie – und ich sitze wirklich, wirklich ungern auf der Walze. Bei Finsternis und Eis geht’s halt nicht anders.“
Also hat die Bühne Heim-WM einen Impuls auf deine Motivation ausgelöst, noch mehr ins Training zu investieren?
„Ich glaube schon.“
Was am Mittwoch fast ein bisschen untergegangen ist: Der siebte WM-Titel bedeutet, du hast Jonathan Wyatt, den Bergläufer schlechthin, hinter dir gelassen. Er muss jetzt zu dir aufschauen! (Andrea lacht) War das in der Szene, unter den Athletinnen, ein Thema?
„Darauf hat mich niemand angesprochen. Aber ich fühle mich extrem wohl in ,meinem’ Starterfeld. Die Letzte, die mir fünf Sekunden vor dem Start noch Alles Gute gewünscht hat, war Valentina Belotti, die aus der vierten Reihe mir mit dem langen Arm auf die Schulter geklopft hat. Sie war eine meiner härtesten Gegnerinnen vor einigen Jahren, ich glaube sie war viermal hinter mir Zweite bei Großereignissen. Eine, über die man sagen könnte, sie hätte unter mir und meiner Leistung gelitten, schreit mir noch zu ,Alles Gute, du schaffst es!’
Ähnliches trifft auf viele meiner Kontrahentinnen zu und das macht einfach so viel Freude. So viel Zuspruch und gute Wünsche beim Einlaufen, so viele Glückwünsche nach dem Rennen, sie hätten es keiner mehr gewünscht als mir. Diese Worte von den eigenen Gegnerinnen, das gibt mir wirklich viel! Einer der ersten Gratulanten im Ziel war beispielsweise der Teamchef der italienischen Delegation, der mir am Tag vorher noch geschrieben hat, ich soll ihn zu Freudentränen bringen. Es ist außergewöhnlich, von den eigenen Gegnern – und letztendlich sind sie meine Gegnerinnen und Gegner – so viel Zuspruch zu bekommen.“
Um wie viel größer ist diese Popularität nach außen hin geworden, sowohl deine Person betreffend als auch die der Sportart Berglauf im Allgemeinen? Die Darstellung war durch die Tausenden Fans auf der Strecke, die wahrscheinlich zum großen Teil erstmals bei einer WM dabei waren, durch die TV-Übertragung, durch die Topmeldung auf der wichtigsten Sport-Website des Landes am Mittwochnachmittag (Andrea ruft ein: „Ja, Wahnsinn!“ dazwischen) schließlich außergewöhnlich!
„Ich glaube schon, dass die Popularität der Szene gewonnen hat. Didi Wolf hat in der ORF-Übertragung mehrmals betont, wer im Starterfeld ist, wie viele Nationen beteiligt sind, dass dies keine Randsportart ist. Genau dieser Eindruck, dass Berglauf nur eine Randsportart sei, ist aber viele Jahre lang oft konstruiert worden, eigentlich auch vom eigenen Verband. Da ist das ,nur’ der Berglauf. Schau dir unser Jahresbudget für den gesamten Berglauf an! Da gibt es Leichtathleten in Österreich, die, überspitzt gesagt, sich dafür zweimal massieren lassen. Und was noch dazukommt und darauf musste ich über die Jahre auch Funktionäre immer wieder aufmerksam machen: Im Berglauf sind nicht nur ,Wapplerinnen’ unterwegs, da sind Läuferinnen, die einen Marathon in Olympia-Limit-Qualität laufen können und bei uns keine Medaille gewinnen, siehe Domenika Mayer, EM-Sechste im Marathon, Zweite beim Linz Marathon, unlängst Dritte beim Europacup über 10.000m. Es ist seltsam, dass die Szene dieses Verteidigungsverhalten an den Tag legen muss.“
Ich war etwas verwundert, dass der Veranstalter, der im Vorfeld offensichtlich den Fokus stark auf das Trailrunning gelegt hat, dich als Aushängeschild der sportlichen Delegation des Gastgeberlandes nicht präsent in offizielle Termine eingebaut hat. Dich auch?
„(Ein vorsichtiges) Ja, für mich war ein bisschen irritierend, dass ich den Heimvorteil im Sinne von bestmöglichen Vorbereitungstrainings im Vorfeld nicht gespürt habe. Auch nicht, als ich zweimal über ein verlängertes Wochenende die WM-Strecke im Stubaital besichtigt und dort trainiert habe.“
Im Moment des Erfolgs hat der Veranstalter dich aber würdig präsentiert und den genialen Moment nicht nur erkannt, sondern auch mitgelebt…
„Auf der anderen Seite: Wenn ich auf Plakaten präsentiert worden wäre, das hätte mir noch mehr Druck gemacht. Aus dieser Perspektive war es angenehm für mich, nicht im Mittelpunkt zu stehen.“
Das verstehe ich, aber eine Eröffnungspressekonferenz ohne Beisein von Andrea Mayr, hatte ich ehrlich gesagt nicht am Plan.
„Es hat schon damit begonnen, dass ich, wie jeder andere, aus den Medien erfahren habe, dass wir eine Heim-WM bekommen.“
Im WM-Studio, einer Talksendung des Veranstalterteams, hast du gesagt, du hättest bis zum Tag X alles genau geplant und vorbereitet, aber keine Ahnung, was ab Tag X plus eins und weiter sein wird. Was steht sportlich für dich nun an?
Andi, ich und mein Hund Billy werden am Sonntag ganz spontan den Katrinberglauf bestreiten. Aber ansonsten ist es tatsächlich so, dass ich noch gar nichts geplant habe. Es fühlt sich wirklich komisch an, dass der Saisonhöhepunkt schon am Saisonbeginn vorbei ist.