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Die Vermessung der Welt

Die Uhr umschließt angenehm mein Handgelenk. Bereit ist sie immer. Die Kopfhörer dichten den Gehörgang ab. Der digitale Empfang bewegt sich am Optimum. Es kann losgehen, liebe Community. Seht her und staunt!

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Die Vermessung der Welt

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Die Uhr umschließt angenehm mein Handgelenk. Bereit ist sie immer. Die Kopfhörer dichten den Gehörgang ab. Der digitale Empfang bewegt sich am Optimum. Es kann losgehen, liebe Community. Seht her und staunt!

Der Wecker läutet, der Tag erwacht. Ich leider nicht. Müde schließe ich noch einmal die Augen und will mich umdrehen, die wohlige Wärme der Wolldecke bis zum absolut letzten Augenblick auskosten. Obwohl ich früh ins Bett gegangen bin, am Abend zuvor nicht schwer gegessen habe, fühle ich, wie meine Glieder schwer den ganzen Körper zurück in die Matratze drücken. Den Grund dafür erfahre ich durch einen raschen Blick auf die Uhr: gewünschte Schlafmenge erreicht, aber insgesamt schlechte Qualität. Danke, liebe Uhr. Welch glorreiche Erkenntnis. Ein Blick in den Spiegel bestätigt mir aber schließlich, was mir mein digitaler Begleiter am Handgelenk über einen ausgeklügelten Algorithmus mitgeteilt hat: Ich sehe erbärmlich aus. Augenringe, geschwollene Lider und nach unten hängende Mundwinkel.

Doch genug des Jammerns! Nach einer kurzen Morgentoilette werden trotzdem die Laufschuhe geschnürt. Vor dem Start noch schnell ein Selfie gepostet, um meinen zahlreichen Followern zu beweisen, dass ich auch ja um 5:30 Uhr am Morgen loslaufe. Dann der Start. Meine steifen Glieder brauchen noch ein wenig, bis sie sich daran gewöhnt haben, nach der schlechten Nacht ihre Leistung zu bringen. Das sagt mir auch die Uhr: Schrittlänge kurz. Schrittfrequenz schlecht. Tempo mies. Wie deprimierend die kleinen Zahlen auf dem hell erleuchteten Display doch sind. Und wie peinlich, wenn das erst meine Community liest. Eine gute Ausrede muss her. Also schnell das Handy raus, ein Foto meines Knies gepostet und vermerkt, dass es heute sticht und ich deshalb das Training ruhiger als geplant angehen muss. Ausrede gefunden, öffentlich gemacht. Zumindest die mangelnde Leistungsfähigkeit beschäftigt mich nun nicht mehr.

Während die Häuser an mir vorüberziehen und die Sonne langsam aufgeht, spüre ich durch die Vibrationen an meinem Oberarm, wie sich meine ersten Freunde, Follower und Community-Helden zu meinen Postings melden. Ich sammle Likes wie Kilometer auf meiner Strecke, labe mich an ihnen und sauge die Gefällt-Mir-Klicks auf wie ein Schwamm das Wasser. Und jede neue Vibration meiner technischen Gimmicks pusht mich weiter nach vorne.

Das haptische Feedback sagt mir, dass jemandem gefällt, was ich gerade mache, dass ich bereits einen Kilometer absolviert habe und dass mein Puls zu hoch ist. Langsamer laufen, Tempo rausnehmen, Herzfrequenz nach unten bringen. Jetzt ist die Uhr wieder zufrieden.
Und ich auch.

Zumindest kurzfristig, denn die letzte Aktion hat mich ins Grübeln gebracht. Früher, da habe ich es selbst gemerkt, wenn mein Puls zu hoch war, da mussten keine Bewegungs- und Beschleunigungssensoren meine Schrittlänge und Schrittfrequenz messen. Ich habe gefühlt, in mich hineingehorcht und eine Antwort bekommen. Heute hört jemand anders für mich. Quasi ein vollumfänglich von mir genehmigter und gestatteter Lausch- und Messangriff auf meine persönlichsten Daten. Und dieser jemand antwortet mir. Zuverlässig – so lange der Akku geladen ist. Und die Antwort bekomme ich mit der kalten Präzision einer Maschine, die aus den digitalisierten Daten wie Alter, Geschlecht und Gewicht errechnet, wie schnell ich einen Marathon laufen könnte, wie gut ich erholt bin und wie bald ich die nächste anstrengende Einheit angehen kann.

Die Uhr fragt dabei nicht, ob ich vor dem Training Streit mit meiner Frau hatte, ob meine Motivation im Keller ist oder ob ich gefühlte 100 km/h Gegenwind beim Laufen hatte. Sie nimmt keine Rücksicht auf meine Tagesverfassung, ist objektiv, lässt keine Ausreden zu. Sie lehrt mich Selbstkritik und sagt mir dafür, wann ich mein Ziel erreicht habe. Darüber freue ich mich immer. Ein ganz klein wenig. Immerhin, die Uhr lobt mich mehr als meine Frau.

Mittlerweile kann ich die Stirnlampe ausschalten, die erste Streckenhälfte der morgendlichen Einheit ist erledigt und das Tageslicht begleitet mich auf meinen letzten Kilometern, die ich vor der heißen Dusche noch zu absolvieren habe. Ich kann kaum noch, da drücke ich den Button für meinen ganz speziellen Motivationssong, der sogleich über meine Kopfhörer startet. Er trägt mich vorbei an starrenden Gesichtern der Leute, die gerade zur Arbeit wanken und in deren Antlitz sich ganz klar ihre Meinung über mich spiegelt: Cyborg.

Die letzten Kilometer sind geschafft, die Uhr klopft mir symbolisch auf die Schulter und gratuliert mir zu meinem Erfolg, als ich mich unter die heiße Dusche stelle. Während das heiße Wasser über meinen verschwitzten Körper rinnt, synchronisiere ich meine Einheit ins Web, damit die Community staunen kann. Ich sehe mir später meine Einheit am Computer an, sehe genau die Steigungen, die Entwicklung der Herzfrequenz und den Verlauf meines Durchschnittstempos. Ich bin ein wenig stolz. Und dann denke ich nach.

Ich weiß jetzt viel, beinahe alles. Nur eine Sache weiß ich nicht. Warum nur bin ich früher viel schneller gelaufen als heute?

Autor: Karl Aumayr
Bilder: SIP | Pexels

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