Seit drei Tagen laufen die 31. Olympischen Spiele in Rio de Janeiro und der unausgesprochene Wunsch des Internationalen Olympischen Komitees, die spektakulären Bilder und die großartigen Leistungen der Spitzensportler würden die Negativschlagzeilen und das zaghafte, zurecht kritisierte Vorgehen des IOC in der Causa Russland übertünchen, hat sich bisher noch nicht erfüllt. Weil sich das „kleine IOC“, das IPC, Veranstalter der Paralympics, zu jener Entscheidung durchringen konnte, für die dem IOC der Mut und offensichtlich auch der Wille fehlte – die Sportnation Russland auf Grundlage der erwiesenen, staatlich geförderten Dopingsystematik der letzten Jahre von den Paralympics 2016 kollektiv auszuschließen (siehe eigenen Bericht). Genau nach der Empfehlung der Welt Anti Doping Agentur (WADA) und Richard McLaren, Verfasser des WADA-Berichts mit delikatem Inhalt. Die Tatsache, dass dem IOC trotz der großkotzigen Ankündigungen die Knien im Kampf gegen Doping windelweich wurden, hinterlässt den Beobachter mit wenig Verständnis und einer Portion Zynismus. Es zeigt aber auch, dass eine klare Linie dahinter steckt.
Kniefall vor Russland
Erschüttert hatte die internationale Sportwelt vor knapp zwei Wochen reagiert, als das IOC die eigenen Ankündigungen, mit größtmöglichen Sanktionen gegen Doping-Betrüger vorzugehen, ad absurdum führte und die Verantwortung über einen Ausschluss Russlands den einzelnen Verbänden zuschob, die mitunter aufgrund der zeitlichen Nähe zu den Spielen völlig überfordert reagierten. Damit verpasste das IOC nicht, ein starkes Signal im Kampf gegen Doping im Sport zu setzen. Es wurde eine starke Botschaft ausgesandt, kein Zweifel. Der Kniefall vor der Sportnation Russland kommt indirekt beinahe einer billigenden Akzeptanz von Doping im Spitzensport gleich. „Bühne frei für die chaotischsten und verruftesten Olympischen Spiele der Geschichte“, titelte die britische Tageszeitung „Daily Mail“. Die französische Sportzeitung „L’Equipe“ malte mit Worten: „Das IOC hat seinen Mut genommen, ihn vorsichtig in eine Schublade gelegt und deren Schlüssel verlegt.“ Die spanischen Kollegen von „Marca“ resignierten: „Das IOC hisst die Fahne Russlands.“ Und die Schweizer Tageszeitung „Blick“ fasste zusammen: „Einer der dunkelsten Tage des Sportgeschichte.“
Doch nicht nur die Medienwelt kritisierten das IOC zum großen Teil (es gab auch anders klingende Berichterstattung, nicht nur aus Russland, Anm.), sondern auch hochrangige Funktionäre. Die Welt Anti Doping Agentur zeigte sich sehr enttäuscht, dass das IOC der eigenen Empfehlung nicht gefolgt war. Der ehemalige WADA-Präsident Richard Pound, der in den WADA-Ermittlungen gegen Russland eine führende Rolle einnahm, verstärkte seine bereits seit längerer Zeit anhaltende Kritik an IOC-Präsident Thomas Bach und wetterte: „Das war eine perfekte Möglichkeit für das IOC, moralische Standards gegen ein Land zu schaffen, das die vollständige Verachtung der Regeln demonstriert hat. Dagegen schoss das IOC ein gewaltiges Eigentor! Das IOC ist berechtigt, zu bestimmen, wer bei Olympia teilnehmen kann. Es ist nicht die Aufgabe der Verbände!“ Und der deutsche Journalist Thomas Kistner, der durch seine kritische Haltung gegen Sportfunktionäre bekannt ist, skizziert in seiner Kolumne in der „Süddeutschen Zeitung“ reichtzeitig zum Olympia-Start: „Doping ist kein Problem für das IOC. Der Kongress springt auf und tanzt, wenn die Funktionäre aus Sportfreund Putins Reich preifen.“ Noch deutlicher wurde der US-amerikanische Trainer Steve Magness, selbst ein Whistleblower: „Das IOC hat ein gigantisches F*** an alle Menschen ausgesendet, die in den letzten 40 Jahren mehr für die Integrität des Sports getan haben als das IOC.“
Unter Freunden
IOC-Präsident Thomas Bach wollte die Anschauung eines großzügigen Entgegenkommens gegenüber dem russischen Sport und seinem Freund Vladimir Putin, in dessen Interesse nationale Erfolge im Spitzensport eine essentielle Rolle einnehmen, nicht gelten lassen. Man habe das Beste getan, es gehe um den Schutz all der sauberen Athleten auf der Welt, gab Bach ernsthaft zum besten. Doch der Eindruck scheint nicht trügerisch, die eine Hand wäscht die andere: Der Mann, der mit seinen Olympischen Spielen 2014 Thomas Bach einen glänzenden ersten Auftritt als neuer IOC-Präsident bereitete (die erschreckenden Doping-Geheimnisse kamen ja erst zwei Jahre später ans Tageslicht), soll nun keinesfalls abgestraft werden. Eine Entscheidung mit taktischen Motiven. So funktioniert halt moderne Sportpolitik!
Die Zeit wird’s richten
Die Zeit wird’s richten – so lautete die Parole von Thomas Bach. Die erwartet glorreichen und glanzvollen Spiele von Rio sollen die Negativ-Schlagzeilen schnellstmöglichst mit Hilfe der Massenmedien, die für die Olympia-Berichterstattung sehr viel Geld beim IOC hinterlegten, aus dem Zentrum der Aufmerksamkeit verdrängen. Und tatsächlich ist nun die alles entscheidende Frage: Welcher Eindruck wird nach den Olympischen Spielen von Rio vorherrschend sein? Strahlt die heile Welt von Olympia dann wieder und verdrängt die dunklen Schatten der Doping-Misere?
Die Zeit wird’s richten ist auch das Motto des IOC bei der Aufarbeitung der dunklen Vergangenheit. Bekanntlich wurden bei Nachtests von Dopingproben bei den Olympischen Spielen 2008 und 2012 98 positive Ergebnisse erzielt. Auf die öffentliche Kommunikation von Namen verzichtete das IOC größtenteils und verschob diesen Termin auf nach den Olympischen Spielen. Das sportliche Highlight des Jahres soll wohl nicht mit Negativ-Schlagzeilen im Vorfeld beeinträchtigt werden, vielleicht gilt es auch Stars zu schützen, die unter den Olympischen Ringen in Rio glänzen sollen. Und möglicherweise ist das Thema nach dem glorreichen Sportfest in Brasiliens Metropole weniger interessant für die Welt-Öffentlichkeit als davor.
Unerwünschte Whistleblowerin
Eine Entscheidung des IOC eckt praktisch überall an und darf gewissenhaft als nettes Geschenk an Vladimir Putin gesehen werden. Jene Frau, die mit ihrer mutig gesammelten Beweis-Palette das russische Doping-System zum Einsturz gebracht hatte, sollte nun keinesfalls in Rio teilnehmen dürfen, während die russische Nationalmannschaft zu Hause festsitzt. Whistleblowerin Yuliya Stepanova, ausgeladen von den Olympischen Spielen, sogar mit einer teilweise argumentierbaren Erklärung. Als russische Sportlerin, die bereits des Dopings überführt wurde, dürfe sie wie alle anderen russischen Leichtathleten, die bereits erwischt wurden, nicht starten. Dies erklärt jedoch nicht, warum ehemalige Dopingsünder aus anderen Nationen in diversen Disziplinen der Leichtathletik teilnehmen dürfen – oder in anderen Sportarten, wie Doppel-Dopingsünderin Yuliya Efimova, Schwimmerin, die vom CAS die Starterlaubnis erhielt. Und erst recht nicht, warum das IOC keine Ausnahmeregelung gemacht hat, um die unschätzbaren Verdienste im Kampf gegen Doping Stepanovas zu honorieren. Die nächste Breitseite gegen die IAAF, die Stepanova in Anerkennung eine Startberechtigung als neutrale Athletin erteilt hätte, aber in diesem Falle nicht die oberste Entscheidungsinstanz ist. Vladimir Putin dürfte sich freuen, jeder, der den Kampf gegen Doping im Sport befürwortet, dürfte genauso verärgert sein wie Stepanova selbst. Die Botschaft des IOC: Whistleblower werden nicht nur nicht belohnt, sondern von höchster Funktionärsebene als „persona non grata“ abgestempelt. Sieht so eine Motivation aus, Misstände im Sport aufzudecken?
Keine Dopingtests in Brasilien
Wie engagiert sich das IOC dem Kampf gegen Doping widmet, zeigt nicht nur die gutgesinnte Behandlung Russlands, sondern eine weitere Episode. Laut Medienberichten der „Süddeutschen Zeitung“, die sich auf die britische Tageszeitung „Times“ stützte, wurde im Zeitraum zwischen dem 1. und dem 24. Juli – also der Monat vor den Olympischen Spielen – kategorisch kein einziger der 465 brasilianischen Olympia-Starter einem Dopingtest unterzogen. Für diesen Zeitraum hatte die Welt Anti Doping Agentur dem Labor in Rio wegen nachzubessernder Standards die Akkreditierung entzogen. Das Ausweichen auf Labore im Ausland hielten die brasilianischen Anti-Doping-Kämpfer nicht für notwendig, internationale Bestreben für Kontrollen hab es offensichtlich ebenfalls keine. Das IOC reagierte beschwichtigend und sprach dem brasilianischen Sport das vollste Vertrauen aus, das bestmögliche im Kampf gegen Betrug zu unternehmen. Was wirklich für das IOC zu zählen scheint, sind nicht saubere Lokalmatadoren, sondern glänzende, stimmungsvolle Spiele, die natürlich mit einem erfolgreichen Gastgeber und jubelnden Fans einen besseren Gesamteindurck erzeugen!
Kein Doping-Problem
Wenn man die wichtigsten Protagonisten im Spitzensport zum schwarzen Thema Doping befragt, bekommt man selten taugliche Auskünfte. Doch manchmal trifft man auf höchstgradig interessante Informationen, wenn man zwischen den Zeilen liest. US-Superstar und Fahnenträger Michael Phelps, seines Zeichens der erfolgreichste Olympionike aller Zeiten mit sage und schreibe 19 Goldmedaillen (Stand: 7. August 2016), sagte in Rio, er habe sich mit dem Thema Doping noch nie wirklich beschäftigt, weil er noch nie gegen Sportler geschwommen sei, die gedopt hätten. Es folgte kein verschmitztes Grinsen, sondern ein bierernster Gesichtsausdruck. Dopingproblem im Schwimmsport, der zweitwichtigsten Olympischen Sportart nach der Leichtathletik? Von offizieller Funktionärsebene stets entschieden verneint. Doping gibt es bei uns nicht! Dementsprechend sind auch sämtliche fulminante Weltrekordleistungen der ersten Wettkampftage, darunter einige Darbietungen an der Grenze des Menschenmöglichen, absolut unverdächtig und nicht diskussionsverdächtig. Die Stars zelebrieren innerhalb der heilen Welt von Olympia ihre Rekordleistungen mit strahlenden Gesichtern und großem Jubel der Fans und Funktionäre, ohne dass irgendjemand aus der Sportart einen kritischen Gedanken zulässt. Diese Perspektive zeigt, welch vorbildlichen Wende die Leichtathletik in der Regentschaft Coe geschafft hat.
Sebastian Coe hält dem Druck stand
Gewichtheben und Leichtathletik – zwei Sportarten, die in jüngerer Vergangenheit mit großen Doping-Problemen zu kämpfen hatten und diesen Kampf nun auch offen angenommen haben, haben sich dazu gerungen, russische Sportler kategorisch von den Olympischen Wettkämpfen auszuschließen. Einige andere Sportverbände folgten mit einzelnen individuellen Startverboten, insgesamt trat aber mehr als zwei Drittel des ursprünglichen russischen Olympia-Teams die Reise nach Rio an. Im Falle der Leichtathletik war die Übergabe der Verantwortung vom IOC nur eine Formalie, ist der Russische Leichtathletik-Verband ohnehin suspendiert und die IAAF hat ohnehin bereits entschieden, die Olympischen Wettkämpfe ohne russische Athleten abwickeln zu wollen. Die IAAF kam vom Kurs dieses konsequenten Vorgehens nicht ab, auch weil der oft kritisierte Präsident Sebastian Coe den massiven Druck, der ihn vor allen Dingen aus Russland bedrängte, im Gegensatz zu Thomas Bach standhielt und nicht einknickte. Zahlreiche gerichtliche Anfechtungen von Seiten der Beschuldigten hatten vor dem Obersten Internationalen Sportgerichtshof CAS keine Chance gegen die gut vorbereitete Regelung der IAAF. Und siehe da: Die Kritik an Sebastian Coe ist in den letzten Wochen und Monaten merklich zurückhaltender geworden. Sicherlich nicht nur, da sie nun gegen andere Protagonisten des Weltsports gerichtet ist.
Amüsante Aussagen bei Pressekonferenz
Bei einer Pressekonferenz vor dem Start der Olympischen Spiele in Rio bekräftigte Thomas Bach, man nehme die Situation ernst und werde den russischen Doping-Skandal lückenlos aufklären. Angesichts des Verhaltens des IOC, dessen Mitglieder übrigens bis auf eine Gegenstimme Thomas Bach und seiner Vorgangsweise den Rücken stärkten – also 84 von 85 (!), klingen diese Worte nicht nur wie leere Versprechungen, sondern wie ein Treppenwitz. Übrigens, wenn man keine Athleten sanktioniert, sind auch alle sauber… Dass das IOC vom Verhalten in dieser delikaten Situation einen Schaden davontragen könnte, glaubt der Deutsche übrigens nicht. „Wir haben das Beste getan, um saubere Athleten zu schützen.“ Innerhalb der heilen Welt von Olympia.