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DIE Augenblicke des rot-weiß-roten Laufsports des Jahres schlechthin spielten sich am Nachmittag des 7. Juni auf einem Berghang hinauf zur Elferhütte im Stubaital in Tirol ab. Sonnenstrahlen vom nur leicht bewölkten Himmel und das alpine Grün, das saisonbedingt sich erst langsam einer satten Farbgebung näherte, kündigten an diesem Spätfrühlingsmittwoch auch in einer Meereshöhe von rund 2.000m langsam den Sommer an. Ein sporthistorischer Duft lag an diesem ersten Wettkampftag der Berglauf- und Trailrunning-WM in Tirol in der sauberen Bergluft der Alpen. Tausende Zuschauer säumten den eng ausgeflaggten Kurs den anspruchsvollen Schlusshang hinauf, hatten Fahnen, Kuhglocken, andere Krachmacher und unzählige Smartphones mitgebracht. Unter die Menschenkarawane, die mit der Gondel zur Bergstation fuhr und anschließend entweder kerzengerade über die schneefreie Skipiste oder etwas abseits die sanften Serpentinen des Wandersteigs vorbei an Gebrigssträuchern und unter benadelten Ästen der Bäume hinaufmarschierten, mischten sich etliche Fitnesswunder in verschiedenen Nationaldressen, die erst in den Tagen darauf ihre Wettkampfeinsätze hatten. Das vom Kenianer Patrick Kipngeno dominierte Männerrennen eignete sich optimal zum Einstimmen, die meisten waren hauptsächlich wegen Andrea Mayr (SVS Leichtathletik) gekommen. Die sechsfache Welt- und fünffache Europameisterin wollte im Alter von 43 Jahren einen späten Karriere-Höhepunkt setzen. Um ihre Chancen zu erhöhen, hatte der Veranstalter entgegen seines ursprünglichen, logistisch einfacheren Plans das steile und fordernde Schlussstück hinzugefügt. Hier, wo nur die absolute Weltklasse Laufschritte setzte und sich alle anderen weit nach vorne gebückt im Gehen hinaufquälten. Und zwar nicht mit dem Ziel, oben bei herrlichem Ausblick die hierzulande beliebte Bergjause mit einer genussvollen Halben zu verköstigen.
Livestream und Livetiming funktionierten mit richtiger Ausrichtung der Geräte 1.020 Höhenmeter über dem authentisch-ruralen Mediencenter unten im Tal. Dort, wo die Kameras die Oberösterreicherin als Star des Tages in der Startaufstellung mehrfach einfingen. Sie versteckte ihre Augen hinter einer dunklen Sonnenbrille mit weißem Rahmen. Später zeigten die Bilder, wie die Österreicherin im anfänglichen Flachstück um eine halbwegs gute Ausgangsposition kämpfte. Und sie präsentierten in den Bergaufpassagen im bewaldeten Hang die dynamische Bewegung dank einer Innovation. Kameraläufer zwangen sich die Lunge aus dem Leib, indem sie den Topläuferinnen einige Meter mit möglichst ruhiger Hand folgten. Sie beschrieben die Renndynamik und ließen dank der eigenen Schnappatmung als akustische Note zur Waldruhe das Geschehen hautnah mitleben.
Mayr führte klar, wo die Verpflegungsstation eine Lichtung ausfüllte, oben am Schlusshang stiegen Spannung und Vorfreude auf einen frenetischen Empfang. Denn der Zwischenstand sickerte durch. Die Streckencharakteristik änderte sich nun in einen flachen Übergang Richtung Bergstation und die Kenianerin Philaries Kisang machte den klaren Rückstand auf die Lokalmatadorin wett. Deren Stärke entfalten sich bekanntlich in der steilsten Steilheit, weswegen der Vertical-Bewerb ihr wie auf den Leib geschneidert ist. Dort, wo die Fanscharen warteten. Wo nicht nur die Österreicher Andrea Mayr die Daumen hielten.
Die Blicke orientierten sich im Kollektiv den Hang hinunter, als plötzlich zwei Läuferin durch die Perspektive huschten. Die Kenianerin hatte die Führung übernommen. Das Duo verschwand in den von einer Kuppe verdeckten Serpentinen. Als sie wieder auftauchten, um in eine leichte Mulde einzubiegen, bevor der fast kerzengrade, steile Schlussabschnitt begann, brannte Jubel auf. Mayr hatte das Blatt wieder gewendet, danach begleitete sie ohrentäubender Lärm und ein enges Spalier hinauf zum lauten Siegesschrei auf der Ziellinie. Es folgte eine Serie authentischer Emotionen, die Oberösterreicherin hatte mit dem siebten WM-Titel, dem ersten auf heimischem Boden, ihr großes Ziel seit der Bekanntgabe der heimischen Austragung dieses Events erreicht. Selbst eine halbe Stunde später sprudelten in den Interviews eher emotionale Worte und Regungen heraus als durchdachte analytische Sätze. Diese sparte sich Andrea Mayr für die Zeit rund um der Siegerehrung im Tal auf, als zu abendlicher Stunde ihr zu Ehren die Bundeshymne ertönte. Der WM-Titel hatte auch deshalb eine große Bedeutung, weil die Österreicherin sich nach sieben Jahren die WM-Krone zurückholte. Nicht mehr als Profi, sondern als der Leidenschaft zum Berglauf verfallene, voll berufstätige Ärztin, die den Großteil ihrer Freizeit auf den Bergen im Salzkammergut verbringt.
Dass Weltmeisterschaften in einer leichtathletischen Disziplin in Österreich stattfinden, ist bereits ein seltenes historisches Ereignis. Es mit einem Heimtriumph zu verknüpfen, eine absolute Besonderheit. Mayrs Sieg am Auftakttag war der emotionale Höhepunkt gelungener Titelkämpfe, die nebst einem breiten Rahmenprogramm in Innsbruck die alpine Welt rund um die Tiroler Landeshauptstadt perfekt präsentierte, unter anderem in einem Livestream mit sechssprachigen Angebot sowie der Live-Übertragungen im ORF. Wie nahe die Titelkämpfe im Naturlauf dem urbanen Gebiet kamen, wurde insbesondere am Schlusstag beim Classic Mountain mit Start und Ziel vor dem Tiroler Landestheater sowie dem Durchlauf mitten durch die Innsbrucker Altstadt sichtbar. Innsbruck, Stubai und Tirol, eine von der öffentlichen Hand gut geförderte WM, verdiente sich beste Kritiken, auch auf internationalem Parkett. Das Laufland Österreich hat Werbung für sich gemacht.
Jahrelang beobachtete, begleitete und forcierte Julia Mayer (DSG Wien) beruflich den Lernfortschritt ihrer Schülerinnen und Schüler. 2023 wechselte sie die Perspektive. Als Schützling von Trainer Vincent Vermeulen lernten sie und ihr Umfeld etwas Neues und visierten den Einstieg in den Marathon an. Dies brachte neue Erfahrungen, harte Lehren, aber enorme Fortschritte. Drei Wettkämpfe und unzählige Trainingskilometer später neigt sich das Jahr 2023 dem Ende zu und Julia Mayer kennt ihr Highlight des nächsten Jahres bereits: Paris 2024. Die Personen, die zu Jahresbeginn ernsthaft daran glaubten, dass die Niederösterreicherin das Olympia-Direktlimit von 2:26:50 Stunden unterbieten würde, waren, vorsichtig ausgedrückt, in der Laufszene nicht mehrheitsfähig.
Ein Marathon ist wie eine Reise und drei Marathons sind drei lange Reisen. Die erste führte vom Trainingsfleiß in Südafrika mit einem verhältnismäßig hohen Trainingsumfang für eine Debütantin in jene Stadt, in der sie wohnend und trainierend die meiste Zeit verbringt: Wien. Das klare Ziel für den Vienna City Marathon, beim ersten ernsthaft vorbereiteten Marathon ihrer Karriere den österreichischen Rekord von 2:30:43 Stunden zu unterbieten, klang nach den Vorleistungen und Rekordläufen über 10km und im Halbmarathon nachvollziehbar. Es war keine ultimative Ansage, doch die Tücken der Disziplin haben Vorsicht gelehrt. Wahrscheinlich wollte Julia Mayer mehr als die 2:30:42 Stunden, doch an einem warmen Frühlingssonntag in Wien, dem 23. April, an dem so viele Menschen wie selten zuvor die Laufstrecke durch die Bundeshauptstadt säumten, produzierte sie in den finalen Passagen einen sportlichen Thriller. Denn nach dem Ausstieg des letzten ihrer drei Pacemaker lief der Rhythmus nicht mehr so hochfrequent wie auf den ersten 35 Kilometern und die Zeit verrann. In fortgeschrittenem Erschöpfungsstadium erreichte Mayer die lange Zielgerade hin zum Burgtheater und holte die letzten Kräfte aus ihrem Körper heraus. Begleitet vom Applaus und lauten Anfeuerungen des Zuschauerspaliers durchbrach sie die Ziellinie und ließ sich auf den Boden fallen.
Richard Schmied, Lebenspartner und Manager, stieg mit Schweißperlen auf der Stirn aus dem Begleitfahrzeug und marschierte in den Zielraum, fast genauso fertig wie die Athletin. Nervenstärke in der Zuschauerrolle mit emotionaler Bindung will auch trainiert und gelernt sein. VCM-Veranstalter Wolfgang Konrad schlängelte sich mit dem Ausdruck von Zeitnehmungspartner Mika Timing durch die Absperrgitter und zeigte Julia Mayer ihre „Lottozahlen“ des Tages: 2:30:42.
Auf Anhieb ÖLV-Rekordhalterin, nahm Mayer die Gelegenheit wahr, an den Weltmeisterschaften von Budapest teilzunehmen und gleichzeitig das Wettkampfjahr mit einem „späten“ Marathon Anfang Dezember auf der schnellen Strecke von Valencia zu beschließen, wo sie als Kandidatin auf einen nationalen Rekord mit offenen Armen willkommen geheißen wurde. In Ungarn lockerte die 30-Jährige ein immer noch tabuisiertes Thema im Frauensport auf: Erst demonstrierte sie, dass Sportlerinnen nicht an jedem Tag des Monats gleich leistungsfähig sind wie an anderen, danach sprach sie darüber in der österreichischen Öffentlichkeit.
So war Marathon Nummer zwei kein Rückschlag, sondern eine weitere wichtige Erfahrung und Ausgangsposition für die dritte Marathon-Vorbereitung, bei der nicht im Umfang, aber in der Trainingsqualität ein Fortschritt gelang. Eine zielgerichtete, problemlose und sich gut anfühlende Vorbereitung führte Julia Mayer zum Valencia Marathon, wo sie sich sicher war, den ÖLV-Rekord weit unter 2:30 Stunden hieven zu können. Ihr Trainer blieb optimistisch, dass der richtige Rennverlauf bei günstigen Bedingungen ihr gar das Olympia-Limit von 2:26:50 Stunden bringen würde. Vor recht kurzer Zeit war so eine Leistung im österreichischen Marathonlauf schwer vorstellbar, Mayer fand in Valencia nach konservativem Start die richtigen Begebenheiten, um in der entscheidenden Phase einen Gang hochzuschalten.
2:26:43 Stunden sind die Zahlen eines besonderen Stücks österreichischer Marathon-Geschichte. Um sagenhafte 3:59 Minuten verbesserte sie ihren eigenen Marathonrekord, das ist hierzulande mit Abstand der größte derartige Sprung in der Neuzeit der Disziplin. Nach der ersten EM-Teilnahme 2019 im Crosslauf und 2022 im Stadion, der ersten WM-Teilnahme in Budapest und später im Halbmarathon in Riga wird Julia Mayer 2024 erstmals bei Olympischen Spielen dabei sein – ein vorläufiger Karriere-Höhepunkt.
Die ganze Saison ordnete Kevin Kamenschak (ATSV Linz LA) einem Ziel unter: die Junioren-Europameisterschaften von Jerusalem Anfang August. Dafür bereitete sich der Österreicher im Frühling teilweise in einer holländischen Trainingsgruppe rund um Supertalent Niels Laros und im Sommer im Höhentraining in St. Moritz vor. Der Aufbau gelang, in Topform reiste der Linzer nach Israel und wählte die 5.000m-Strecke als zweiten Start neben dem 1.500m-Lauf, weil der 3.000m-Bewerb für einen Doppelstart mit der Mittelstrecke nicht so ideal im Wettkampfprogramm verankert war.
Auf der Mittelstrecke musste sich der 19-Jährige am 9. August nach einem starken Auftritt nur dem haushohen Favoriten Laros geschlagen geben. Mit einer kräftigen Tempoverschärfung im letzten Renndrittel forderte der Österreicher den Top-Mann heraus, dieser konterte mit einer irren Schlussrunde von unter 51 Sekunden und triumphierte. Der Holländer hatte unglücklicherweise denselben Wettkampfplan wie Kamenschak, doch der Österreicher lief 24 Stunden später auch über 5.000m auf das Stockerl und sicherte sich im Duell mit dem Briten James Dargan Bronze hinter Laros und 3.000m-U20-Europameister Jonathan Grahn aus Schweden.
Diese Leistungen bedeuteten ein Novum für die österreichische Leichtathletik. Noch nie hat ein heimischer Athlet bei einer Junioren-EM mehr als eine Medaille gewonnen. Im Laufbereich war es das erste internationale Edelmetall in der Alterskategorie U20 seit Günther Weidlinger, der 1997 in Ljubliana im 3.000m-Hindernislauf reüssierte.
Kamenschak kündigt sich seit Jahren als großes heimisches Lauftalent an, hin auf das Jahr 2023 gelangen ihm und seinem Trainer Andreas Prem ein großer Schritt. Das zeigen auch die beiden deutlichen Verbesserungen der ÖLV-Juniorenrekorde im 3.000m-Lauf (von Günther Weidlinger) und im 5.000m-Lauf (von Sebastian Frey) sowie das gute Abschneiden bei den Straßenlauf-Weltmeisterschaften im 5km-Lauf, als er den österreichischen Rekord von Andreas Vojta nur um eine Sekunde verpasste. Der ÖLV-U20-Rekord im 1.500m-Lauf fiel wohl nur deshalb nicht, weil der Oberösterreicher das richtige Rennen dafür gegen Saisonende nicht mehr fand. Auch deshalb geht das Gespann voller Optimismus in die erste Saison der Offenen Altersklasse, in der mit den Europameisterschaften von Rom 2024 gleich ein Großereignis in Reichweite auf dem Programm steht.