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Die großen internationalen Erfolge, wenn es Medaillen als Prämien gibt, hat Letesenbet Gidey bisher noch nicht serienweise geliefert. Goldmedaillen in der Altersklasse U20 bei den Crosslauf-Weltmeisterschaften folgte im Sommer der bisherige Höhepunkt, WM-Gold im 10.000m-Lauf. Doch wenn die Laufzeit im Fokus steht, ist die 24-jährige Äthiopierin einsame Spitze, auch im Vergleich mit den Legenden des Laufsports. 14:06,62 Minuten ist Weltrekord im 5.000m-Lauf, 29:01,03 Minuten Weltrekord im 10.000m-Lauf, eine Zeit von 44:20 Minuten Weltbestleistung im 15km-Lauf und eine Zeit von 1:02:52 Stunden Weltrekord im Halbmarathon – und zwar mit riesigem Abstand. Jene Halbmarathon-Superleistung lief sie am 24. Oktober 2021 in Valencia, ganz nebenbei in ihrem einzigen Halbmarathon bisher. Die Qualität dieser Leistung, gepaart mit der Tatsache, dass es damals ein Debüt war, lassen die Fantasie vor dem Marathon-Debüt, das sie von langer Hand plante und entsprechend vorbereitete, aufblühen. Selbst historische Großtaten werden Letesenbet Gidey zugetraut, und damit ist kaum nur eine Zeit von 2:17:20 Stunden (Almaz Ayana, Amsterdam Marathon 2022) gemeint – der bisherige „Debüt-Rekord“ im Marathon der Frauen.
Überhaupt hat Gidey mit Valencia eine besondere Beziehung. Den Weltrekord über 5.000m ist sie auch in der spanischen Hafenstadt gelaufen, als im Oktober 2020 unter Corona-Bedinungen ein Schau-Wettkampf mit ihrem Weltrekord und jenem von Joshua Cheptegei im 10.000m-Lauf der Männer durchgeführt worden ist. Diese Beziehung soll am Sonntag gekrönt werden, wenn es nach Paco Borao, dem Mastermind hinter der in den letzten Jahren auf beeindruckende Weise florierenden Lauf-Bewegung in Valencia geht. „Wir arbeiten erneut daran, Rekorde zu brechen. Das ist unser Job, das ist unser Ziel“, sagte der Spanier, der auch Präsident der AIMS ist.
Da die äußeren Bedingungen am Sonntag für Marathonläuferinnen ideal zu sein scheinen, geht auch die Athletin in „meinem Wohnzimmer“ in die Offensive. „Ja, es ist mein erster Marathon, aber das ist kein Problem. Wenn ich Glück habe, breche ich den Weltrekord. Es wäre mein dritter hier“, sagte die Äthiopierin bei der Pressekonferenz vor dem Valencia Marathon und fügte an: „Wir können es schaffen. Ich glaube an mich, mein Training und meinen Coach.“ Dieser, Haile Eyasu, schätzte gegenüber der US-amerikanischen Plattform „Let’s Run“, sein Schützling könne in ein Fenster von 2:13:30 bis 2:15 Stunden laufen. Das wäre dann fallweise, am optimalen Marathon-Tag, ein Weltrekord, der bei einer Zeit von 2:14:04 Stunden liegt und von Brigid Kosgei gehalten wird. Gidey startet in Valencia übrigens ohne Vorbereitungsrennen, ihr letzter Wettkampf liegt viereinhalb Monate zurück und es war der 5.000m-Lauf bei den Weltmeisterschaften von Eugene, wo sie als Fünfte leer ausgegangen ist.
Der Coach glaubt, dass der Marathon die Idealdistanz für seine leichtgewichtige und schlanke Athletin, die aus der Region Tigray stammt und mit einem herausragenden Talent gesegnet ist, darstellt und dass sie in der Lage sein würde, mit mehr Marathon-Erfahrung irgendwann den Weltrekord unter 2:10 Stunden zu senken. Das wäre ein unfassbarer Meilenstein, der sicherlich im Augenblick weiter entfernt zu liegen scheint, als ein sub-2-Marathon bei den Männern. Zu bedenken gilt es, dass Letesenbet Gidey, betreut von Manager Valentijn Trouw im NN Running Team, erst 24 Jahre alt ist und auf den Unterdistanzen eine Basis hat, deren Qualität es im Marathon noch nie gegeben hat. (Quelle: Let’s Run.com)
Aufgrund ihrer fantastischen Leistungen auf den Unterdistanzen, insbesondere jener im Halbmarathon als am ehesten verwandte Disziplin zum Marathon, aber vielleicht auch aufgrund der Serie starker Marathon-Debüts von Läuferinnen in den letzten Monaten, stets mit starker männlicher Tempomacher-Unterstützung, ist Letesenbet Gidey die große Favoritin auf den Sieg am morgigen Sonntag. Die Qualität ihrer Leistung ist auch der größte Spannungsmoment des mittlerweile wohl höchstqualitativen Marathonlaufs außerhalb der World Marathon Majors. Und das, obwohl das Rennen so schlecht nicht besetzt ist: Sutume Kebede, Achte in London vor zwei Monaten, im April aber in 2:18:12 Stunden Zweite beim Seoul Marathon, Tigist Girma, in Amsterdam 2019 und Valencia 2020 bereits zweimal unter 2:20 Stunden, Etagegne Woldu und Amane Beriso, allesamt Äthiopierinnen, haben Bestleistungen unter 2:21 Stunden aufzuweisen.
Die beste Kenianerin im Feld ist wohl auch eine Debütantin – und nur im Schatten von Gidey fehlt das Attribut hochkarätig. Denn mit einer Halbmarathon-Bestleistung von 1:04:36 Stunden ist die 31-jährige Sheila Chepkirui die Nummer sieben der ewigen Weltbestenliste im Halbmarathon (Nummer drei Kenias) und hat damit auch eine gewaltige Visitenkarte vor ihrem Marathon-Debüt. Außerdem befindet sich Tiki Gelana, ehemalige äthiopische Rekordhalterin und Olympiasiegerin von London 2012, auf der Eliteliste. Die 35-Jährige hat ihren letzten Marathon allerdings vor sechseinhalb Jahren bestritten und war seither im Laufsport verschollen.
Europäische Topläuferin im Feld ist die Italienerin Giovanna Epis, die hier im Vorjahr eine persönliche Bestleistung von 2:25:20 Stunden gelaufen ist. Die EM-Fünfte sagte in einem Beitrag auf der Website des Italienischen Leichtathletik-Verbandes (FIDAL), dass sie sich in Valencia immer sehr wohl fühlt, mehr Erfahrung als im letzten Jahr hat und einen ordentlichen Verbesserungsspielraum sieht – an den italienischen Marathonrekord von Valeria Straneo (2:23:44) wolle sie aber noch nicht denken, da sie nach einer stressigen ersten Jahreshälfte nach dem EM-Marathon eine längere Pause eingelegt habe. Dazu kommen Bojana Bjeljac aus Kroatien, Carolina Wikström aus Schweden und Spaniens Beste, Marta Galimany. Selten waren in den letzten Jahren so wenige aus der europäischen Elite in Valencia am Start wie in diesem Jahr – das betrifft Frauen- wie Männerrennen.
Nach einigen starken Valencia-Marathons der Männer steht in diesem Jahr das Elitefeld im Schatten jenes der Frauen, mit sechs Läufern mit Bestleistungen unter 2:05 Stunden ist es aber dennoch beachtlich besetzt. Der große Name im Feld ist der amtierende Weltmeister Tamirat Tola, der 2021 den Amsterdam Marathon in 2:03:39 Stunden gewonnen hat. Nach seinem Triumph in Oregon musste er eine Pause einlegen, weswegen der angedachte Start in London zu früh kam – mit Valencia gab es eine hochklassige Alternative. Sein Landsmann Getaneh Molla hat dank seines Sieges beim Dubai Marathon 2019 eine um fünf Sekunden bessere persönliche Bestleistung, seine zweite Marathonleistung hatte jedoch nicht diese Qualität. Der Valencia Marathon ist erst der dritte Auftritt in dieser Disziplin für den 28-Jährigen, ein klarer Nachteil gegen den sehr routinierten Tola.
Die Spitze des Elitefeldes komplettieren Dawit Wolde und Chalu Deso aus Äthiopien, Jonathan Korir aus Kenia, Hiskel Tewelde aus Eritrea und Gabriel Geay aus Tansania, die letzten beiden sind Landesrekordhalter. Einen großen Namen trägt auch Ex-Weltmeister Geoffrey Kirui, der aber in den letzten Jahren keine große Nummer im Geschäft war. Spannende Debüts bei den Männern betreffen jene von Alexander Mutiso, ein schneller Marathonläufer aus Kenia, der in Japan lebt, zuletzt aber keine hochkarätigen Halbmarathon-Leistungen angeboten hat (in Valencia ist er jedoch bereits einmal unter 58 Minuten gelaufen!), jenes seiner Landsleute Philemon Kiplimo, einer der vertrautesten Tempomacher Eliud Kipchoges, und Levin Kiptum sowie jenes des Äthiopiers Milkesa Mengesha.
Für die europäische Marathon-Szene wiegt die kurzfristige Absage von Amanal Petros, der in seiner Lieblingsstadt schon diverse deutsche Rekorde aufgestellt hat (darunter jenen im Marathon vor einem Jahr in 2:06:27 Stunden) schwer. Er sei nicht in der besten körperlichen Verfassung und hätte mehr Zeit zum Trainieren gebraucht, sagt er gegenüber der deutschen Presseagentur dpa. Zuletzt hatten ihn auch Sorgen um seine Familie in der kriegerisch umkämpften Region Tigray in Äthiopien beschäftigt und ihm während des Trainingsaufenthalts in Kenia Energie geraubt. Der 27-Jährige hat unlängst auch den Wechsel zum Team der SCC Events nach Berlin bekannt gegeben und könnte nun den Sevilla Marathon im Februar ansteuern.
Interessant ist der Auftritt des Neo-Schweden Samuel Tsegay, ansonsten ist nur noch der Franzose Mehdi Frère mit einer europäischen Nationalität, die nicht die spanische ist, und einer Bestleistung unter 2:10 Stunden gemeldet. Für internationale Farbtupfer sorgen der Neuseeländer Zane Robertson und der Peruaner Christian Pacheco, die in den Bereich des WM-Limits von 2:09:40 Stunden laufen könnten. Ein Highlight des Rennens ist daher die Ambition einer zweiten Gruppe hinter jener, die auf den Streckenrekord losgeht. Sie nimmt den spanischen Rekord von Ayad Lamdassem (2:06:25) in Angriff. Neben dem Routinier will auch Javi Guerra im Kampf um die Position des besten Spaniers eine gewichtige Rolle spielen.
Für Spannung sorgt sicherlich der zweite Marathon-Auftritt des Halbmarathon-Europarekordhalters Julien Wanders aus der Schweiz. Er nimmt neuen Anlauf nach einem eher missglückten Debüt in Paris im Frühling und einer Verletzung, die ihn bis in den Sommer hinein pausieren ließ. Seinen 10km-Europarekord ist er auf den Straßen von Valencia gelaufen (27:13 Minuten), außerdem hat er mit dem achten Platz bei der Halbmarathon-WM 2018 als bester Europäer eine zweite grandiose Erinnerung an die südostspanische Hafenstadt, die sich selbst als „Ciudad del Running“ bezeichnet.
Auch aus österreichischer Sicht hat der Valencia Marathon 2022 einen Spannungsmoment. Lemawork Ketema (SVS Leichtathletik) hat es dank kräftiger Mithilfe von ÖLV-Sportkoordinator Hannes Gruber, der in Kontakt mit dem Veranstalter trat, in das Elitefeld des Valencia Marathon geschafft. Allerdings nicht als eingeladener Eliteläufer, dafür fiel der zeitliche Abstand zu seiner letzten Spitzenleistung (Wien Marathon vor dreieinhalb Jahren, als er den damaligen österreichischen Rekord lief) zu sehr ins Gewicht. Seine Reise nach Valencia basiert also auf Eigenkosten, dennoch ist der Auftritt für den 37-Jährigen genau aus diesem Grund enorm wichtig. Er bräuchte dringend wieder eine Marathon-Leistung im Bereich seiner besten Zeiten, um noch einmal Schwung in seinem wohl letzten Olympia-Zyklus aufzunehmen. In der aktuellen Jahresbestenliste ist der gebürtige Äthiopier, der sich auch in Äthiopien auf den Valencia Marathon vorbereitet hat, die Nummer drei hinter Peter Herzog (Union Salzburg LA) und Mario Bauernfeind (KUS ÖBV Pro Team) – in Wien war er eine Zeit von 2:15:42 Stunden gelaufen.
UPDATE: Lemawork Ketema hat sich kurzfristig entschieden, aufgrund von muskulären Beschwerden morgen nicht am Valencia Marathon teilzunehmen.
Rund 30.000 Marathonläuferinnen und Marathonläufer starten am Sonntag um 8:15 Uhr in den Valencia Marathon.