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Ein lukrativer Wettlauf

Dank der mustergültigen Harmonie zwischen robuster, extrem leichter Carbonfaser und dem weichen Gemisch der Zoom-Zwischensohle hat Nike mit der Serie „Vaporfly“ und dem direkten Nachfolger „Alphafly“ die Welt der Laufschuhe verändert.
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Dem Spitzensport dienen diese Modelle als augenscheinlich flächendeckendes Erfolgsrezept, dem Freizeitsport als unwiderstehliches Versprechen, den individuellen Ehrgeiz effektiv zu stillen. Aber: Selbst ein Wunderschuh hilft nicht jedem zu Wundern.

Dieser Artikel erschien in der Frühjahrsausgabe 2020 des Laufmagazins RunUp. Nach der Disqualifikation vom ursprünglichen VCM-Sieger Derara Hurisa passt er optimal in den aktuellen Kontext: eine Story über Top-Schuhe.

„Nike ist eine hervorragende Arbeit gelungen“, findet DI Markus Eckelt, Studiengangsleiter für Master Sports Technology an der FH Technikum Wien, lobende Worte für das Erfolgsgeheimnis der Modelle „Air ZoomX Vaporfly 4% Flyknit“ sowie den darauf aufbauenden Folgemodellen „Air ZoomX Vaporfly Next%“ und „Air Zoom Alphafly Next%“. Beheimatet in der Zwischensohle bilden Dämpfungsfunktion und Energierückgewinnungskraft eine exemplarisch effektive Einheit, die den Körper schont und die Laufwelt beschleunigt. Intendiert als Wohlfühlkissen und Turboboost zugleich. Das Erfolgsgeheimnis der ultraleichten Nike-Modelle ist nicht auf eine spektakuläre Innovation, sondern auf eine perfekte Symbiose zwischen bekannter Komponenten zurückzuführen. „Der Einbau eines harten, widerstandsfähigen Materials wie Carbonfaser in ein weiches Umfeld einer Zwischensohle ist ein sehr schmaler Grad“, weiß der Experte. Je dicker die Platte, desto steifer sei die Gesamtkonstruktion und der gewünschte Effekt würde nicht erzielt. Ist die Platte andererseits zu dünn, würde das Material unter der Belastung brechen.

Seit Jahren verleiht eine exzellente PR-Strategie dem Global Player mit Sitz in Beaverton im US-Bundesstaat Oregon enormen Rückenwind in der Anpreisung seiner Premiumprodukte. Inhaltlich wurde sie von einer Studie der University of Colorado aus dem Jahr 2017 gestützt. Das Versprechen lautet eine 4%ige Energieersparnis der körperlichen Anforderung, dem Profis wie Freizeitläufer kaum widerstehen konnten. Die zu erwartende Folge der massiven Zeitersparnis klingt für viele wie der Himmel auf Erden. Auf dem mythischen Weg der 42,195 Kilometer kann nun dort, wo der „Mann mit dem Hammer“ früher gelauert hat, diesem unter Einsatz einiger Körnchen Extraenergie die lange Nase gezeigt werden. Daher die Modellbezeichnung „4%“.Das Breaking-2-Projekt von Monza und der Weltrekordlauf von Eliud Kipchoge beim Berlin Marathon 2018 beschleunigten die unheimliche Dynamik der Verkaufszahlen, deren Gigantismus die Nike-Verkaufsshops an ihre Grenzen brachten. Trotz des vergleichsweise hohen Produktpreises von 250 Euro aufwärts.

Eine 4%ige Energieerspoarnis klingt für viele wie der Himmel auf Erden.

Spannend ist die Tatsache, dass die Produktentwickler Nikes für den augenscheinlichen, lukrativen Wettbewerbsvorteil gegenüber der Konkurrenz die Welt nicht neu erfanden. Seit vielen Jahren wird die gut erforschte Carbonfaser in der technischen Entwicklung von Sportgeräten eingesetzt. Die Stärken des aus Kohlenstofffasern gewonnenen und industriell gefertigten Materials sind überzeugend, aber längst allseits bekannt: „Extrem leicht, witterungsbeständig und, wenn die Faserrichtung stimmt, extrem belastbar“, listet Eckelt auf. Und präzisiert: „Die Faserrichtung ist bei der Krafteinwirkung auf das Material entscheidend. Stimmt sie, ist Carbonfaser extrem belastbar. Belastet man die Fasern im 90°-Winkel dazu, bricht das Material relativ leicht.“ Auch im Laufsport ist Carbonfaser nicht neu. Der Wissenschaftler der anerkannten Fachhochschule in Wien erinnert an vergleichbare Ansätze der federartig wirkenden Vortriebskraft bei Spikes für Sprinter oder an die Prothesen von Oscar Pistorius. „Nike ist es schlichtweg gelungen, Carbonfaser in kleiner Form optimal in einen Laufschuh zu implementieren. Entscheidend ist die Kombination der Steifheit des Materials mit der Sohle, die diesen Rückstellmechanismus der Energie für den Vortrieb erzeugt“, honoriert er.

Die Entwicklung in den Weltbestenlisten der letzten Jahre im Marathon und anderen Laufdisziplinen spricht eine deutliche Sprache. Irre Leistungssprünge in der Hobbyszene skizzierte eine Ende 2018 von der New York Times veröffentlichte Studie. Mithilfe des App-Anbieters Strava analysierten die Autoren knapp 500.000 Marathon- und Halbmarathonresultate aus den letzten fünf Jahren. Die Steigerung bei Nike-Läufern war wesentlich höher als bei jenen mit Konkurrenzprodukten. Beides freilich starke Indizien für die Wunderwirkung der Nike-Modelle. „Wissenschaftlich verlässlich sind die Parameter der Energieersparnis nicht in eine genaue Definition der Zeitersparnis umzurechnen“, analysiert Eckelt. Überzeugt vom positiven Effekt der Nike-Technologie auf die Leistungsfähigkeit auch im Hobbysport ist er trotzdem. Wie groß dieser Effekt ist, hängt vom individuellen Laufstil ab. „Wenn das Laufgefühl ideal passt, kommt man in den Genuss des optimalen Benefits. Umgekehrt werden viele Läuferinnen und Läufer in diesen Modellen gar nicht vernünftig laufen können.“

Viele Läuferinnen und Läufer werden in diesen Modellen gar nicht vernünftig laufen können.

Der Zeitgewinn ist nicht der entscheidende Parameter, sondern die logische Folgewirkung der Energieersparnis und deren Auswirkungen auf das Laufgefühl. Diese erklären Biomechaniker damit, dass die weiche Dämpfungseinheit kombiniert mit der Federwirkung der Carbonfaserplatte aus dem Fersenbereich heraus die Kniebeugung reduziert und die gesamte Beinpartie steifer hält. Damit wird die Muskulatur um die Beingelenke bei der Abfederung des Körpergewichts bei jedem Schritt geschont. Laut einer Studie der University of Colorado profitieren vor allem die Wadenmuskulatur und der Zehenbereich von einer geringeren Belastung, wodurch sich in Nike-Modellen die Mechanik in der Knöchelpartie verändert. Zahlreiche Top-Läufer schwärmen davon, dass die muskuläre Beanspruchung bei harten Trainingsläufen geringer ist als mit anderen Schuhen – ein großer Vorteil im Trainingsaufbau vor Wettkämpfen. Ob höher liegende Gelenke wie Knie oder Hüfte stärkere Kräfte absorbieren müssen als mit anderer Schuhtechnologie am Fuß, wollen die Forscher nicht ausschließen.

Wissenschaftlichen Konsens über die biomechanischen Auswirkungen der Vaporfly- und Alphafly-Serien gibt es ohnehin nicht. Eine Studie der Oregon State University kam zu einem konträren Schluss als jene aus Colorado und entdeckte Anzeichen dafür, dass großzügige Dämpfungselemente sogar höhere Belastungen auf den Körper bewirken und damit das Verletzungsrisiko insgesamt steige. Ein nicht unwesentlicher Punkt für die Laufszene. Schließlich spielt bei Gesundheitssportlern eine geringe Verletzungsanfälligkeit im Verhältnis zur schnelleren Laufzeit im Bereich der Leistungsgrenze eine wichtigere Rolle als im Profibereich. Ganz einig ist sich die Forschung außerdem nicht, welcher Läufertyp von der Komposition der Nike-Wunderschuhe mit ihrem enormen Vortrieb am stärksten profitiert: Vorfuß- oder Fersenläufer. Gar auf die Euphoriebremse treten neuseeländische und kanadische Forscher unter der Leitung von Kim Hébert-Losier von der University of Waikato in Tauranga. In der Studie „Evidence of variable performance responses to the Nike 4% shoe: Definitely not a game-changer for all recreational runners“ erkennen die Wissenschaftler in den Leistungsparametern der Probanden zwar große Unterschiede zwischen dem Nike Vaporfly und einem anderen Laufschuh. Die Leistungsunterschiede zwischen dem Vaporfly und einem reinen Wettkampfschuh eines anderen Herstellers waren aber schwindend gering – daher der nüchterne Untertitel der Studie, die auf der Onlineplattform des „Center for Open Science“ abrufbar ist.

Die unverhältnismäßige Anhäufung von Weltklasseleistungen rief selbst im Frühstadium wissenschaftlicher Forschung den Leichtathletik-Weltverband auf den Plan. Er sah sich gezwungen, mit der Bildung einer eigenen Taskforce einzuschreiten. Drastische Eingriffe in die Technologie gab es nicht, eher ein mildes neues Regelwerk mit klaren Definitionen, das Nike in seiner Technologie nur ein bisschen einbremste. Nur der Alphafly, der Eliud Kipchoge im Wiener Prater zum ersten sub-2-Marathon der Geschichte getragen hat, wurde zum Museumsstück definiert.

Der Ehrgeiz, möglichst angenehmen und schnellen Lauf zu kombinieren, floriert auch im Freizeitbereich.

Letztendlich ist die Frage, welchem Laufschuh Eliud Kipchoge für sein Ziel, so schnell wie möglich zu laufen, vertraut, für die zig Millionen Gesundheitssportler auf der Welt irrelevant. Zumindest abseits der Heroisierung von Sporthelden und des Wunsches, durch gezielte Produktwahl zumindest partiell genau so zu sein wie sie. Der Ehrgeiz, möglichst angenehmen und schnellen Lauf zu kombinieren, floriert aber im Freizeitbereich zuweilen genauso stark wie im Profisport. Die aggressive Komposition der Wunderwaffe unter den Fußsohlen wirft die legitime Frage auf, ob die Nike-Topmodelle in ihrer Charakteristik auf den Spitzensport ausgerichtete Produkte sind, die Hobbyläufer überfordern würden. Etwa weil der starke Vortriebeffekt biomechanische Auswirkungen erzeugt, die möglicherweise ein gewisses Niveau in der muskulären Ausbildung in den Beinen erfordert. Eine Hypothese, die in Studien erst zu überprüfen sei, meint DI Markus Eckelt und wählt in seiner Einschätzung eine diplomatische Herangehensweise: Prinzipiell sei es zu befürworten, wenn Läufer regelmäßig die Laufschuhe wechseln und damit den Körper auf verschiedene Impacts reagieren lassen. Jedes Modell kann während des Einlaufens, also Kennenlernens seiner Spezifika, Schmerzen verursachen. Durch individuelle biomechanische Eigenheiten passt kein Laufschuhmodell universal zu allen Läufern. „Erst nach guten Erfahrungen der Eingewöhnungsphase stellt sich die Sinnfrage. Mit einem simplen Vergleich der Laufzeit und der Herzfrequenz erhält jede Läuferin und jeder Läufer einen Anhaltspunkt, ob ein neuer Laufschuh gut harmonieren kann oder nicht“, beschreibt Eckelt.

Da der wirtschaftliche Erfolg eines Schuhmodells letztendlich alleine vom Konsumverhalten der globalen Laufszene abhängt, stehen selbst große und einflussreiche Laufschuh-Produzenten wie adidas oder ASICS angesichts der frappierenden Überlegenheit Nikes in den Besten- und Siegerlisten unter massivem Druck. Die Olympischen Spiele stellen das ultimative Schaufenster für die Sportöffentlichkeit und damit auch das effektivste Werbefenster dar, um Kurskorrekturen zu erwirken. Trotz ihrer Verschiebung ist der Zeitdruck kaum gelindert, unter dem in diversen Produktionsstätten alle Hebel in Bewegung gesetzt werden, den Rückstand mit den Erfahrungen, Stärken und Traditionen der hauseigenen Evolutionsgeschichte so gut als möglich zu verringern. Sein Gefühl sagt Eckelt, dass die Nike-Konkurrenz nun versuchen wird, auf den schwungvollen PR-Zug der Carbonfaserplatte aufzuspringen: „Inwiefern sie technologische Lösungen finden, die einen großen Fortschritt bedeuten, oder aus der Not in Richtung Placeboeffekt abzielen, ist für mich offen.“ Dabei sind laut Einschätzung des Experten der Kreativität keine Grenzen gesetzt: „Carbonfaser ist kein Muss. Auch andere Materialien können federnde Elemente und eine Rückstellenergie bei der Laufbewegung erzeugen“, unterstreicht er.

Carbonfaser ist kein Muss.

Aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive verspricht die Kopie einer PR-Strategie keinen großen wirtschaftlichen Erfolg, weil die Konsumenten tendenziell der Expertise des Originals vertrauen. Ganz im Gegenteil: Innovation und das Suchen nach eigenen Positionen und Lösungen bedeuten zwar den schwierigeren, aber bei Gelingen in der Theorie gewinnbringenden Weg. Der optimale Effekt von Sportsponsoring hängt jedoch mit möglichst großem Erfolg im Spitzensport zusammen. Dessen glorreiche Bilder speichern positive Erinnerungen in unseren Gehirnen ab, die beim Konsumverhalten Entscheidungen beeinflussen. Nike kann im Moment ein klingendes Lied davon singen.

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