Muss man brillieren, um bei der Crosslauf-EM an der Spitze des Medaillenspiegels zu stehen? Nein, dafür gibt es zu wenige Nationen, die die breite Palette zwischen Allgemeiner und Juniorenklasse abdecken. Kann man den Medaillenspiegel bei Crosslauf-Europameisterschaften gewinnen, ohne eine einzige Individual-Medaille zu holen? Ja, das ist tatsächlich geschehen. Fünfmal Gold und einmal Bronze fielen für den Britischen Leichtathletik-Verband (UK Athletics) am Sonntag in die statistische Wertung, was locker für Platz eins im Medaillenspiegel gereicht hat. Alle sechs Medaillen holten die Briten in den Nationenwertungen und in der Mixed-Staffel. Was automatisch die Frage aufwirft: Sollen die Resultate in den Teamwertungen, die als Medaillen-Entscheidung wichtige Triebkraft an der qualitativ hochwertigen Beteiligung der nationalen Verbände ausstrahlt, aber die großen Nationen klar bevorteilt, jenen in den Einzelwertungen tatsächlich gleichgestellt werden (siehe unten die Unterschiede im offiziellen und inoffiziellen Medaillenspiegel)?
Trotz Sieg im Medaillenspiegel: Großbritannien lieferte die schlechtesten Einzelleistungen seit 1997 ab
Lissabon 2019 lieferte die Mutter aller Beispiele, dass ein gleichmäßig konstant gutes Abschneiden eines aus drei Akteurinnen und Akteuren bestehenden Teams für einen Medaillenregen reicht, ohne auf eine außergewöhnliche Spitzenleistung angewiesen zu sein. Großbritannien dominierte statistisch die Crosslauf-EM 2019, weil man dem Crosslauf im Gegensatz zu vielen anderen Nationen traditionell einen hohen Stellenwert einräumt, das Nationalteam gezielt vorbereitet und wichtige Wettkämpfe im Vorfeld an der Tagesordnung stehen. Als eine der wenigen Nationen in Europa tragen die Briten ihre nationalen Meisterschaften vor der EM aus, nicht wie etwa auch in Österreich im März des Folgejahres (wofür es übrigens triftige und überzeugende Gründe gibt).
RunAustria-Bericht des Männer-Rennens: Vojta bei schwedischer Premiere 39.
RunAustria-Bericht des Frauen-Rennens: Starkes Debüt für Mayer – vierter EM-Titel für Can
RunAustria-Bericht der U23-Rennen und der Mixed-Staffel: Hattrick für Gressier – Möller überlegen
RunAustria-Bericht der Junioren-Rennen: Rekord-Titel für Ingebrigtsen – Titelverteidigung für Battocletti
Alles paletti also im Vereinigten Königreich? Mitnichten. Denn der Sieg im Medaillenspiegel kaschiert, dass die Briten bei Crosslauf-Europameisterschaften gemessen an den Spitzenplatzierungen in den Einzelwertungen (Andrew Butchart und Charles Hicks (Junioren) Fünfte) so schlecht abschnitten wie seit 22 Jahren nicht mehr. Dass auch 1997 die EM auf portugiesischem Boden stattfand, mag dem Zufall entstammen. Wer Großbritanniens Crosslauf-Erfolge analysiert, begutachtet die mit riesigem Abstand historisch erfolgreichste Crosslauf-Nation des Kontinenten – sowohl im Gesamt-Medaillenspiegel als auch im Medaillenspiegel der Allgemeinen Klasse der Frauen, der U23 Frauen und der Juniorinnen. Dort, bei den Mädchen, ist die Dominanz mit 23 Goldmedaillen frappierend. 2008 gelang sogar ein Sechsfachsieg! Steckt der britische Laufsport also in der Krise? Nein, die Resultate auf der Bahn und Straße liefern Gegenbeweise. Ist die Konkurrenz stärker? Trotz des Wegfallens Russlands als potenzieller Medaillenkandidat gibt es mittlerweile eine große Anzahl von Nationen, die zumindest in einem bestimmten Bewerb podestfähig sind. Und der oft umstrittene, oft legitime afrikanische Einfluss entfaltet natürlich auch seine Wirkung. Großbritannien war tatsächlich bei weitem nicht mit der theoretisch besten Nationalmannschaft in Lissabon, dennoch ist das bescheidene Abschneiden ein Alarmsignal. Auch 2018 blieb man ohne Einzelmedaille. Übrigens: Die Spanier, eine weitere europäische Crosslauf-Hochburg, gewannen zwar eine Einzelmedaille (Oukhelfen, U23), werden aber nach dem historisch schlechten Abschneiden von Luxusproblemen sprechen, wenn es um die Analyse der britischen Leistungen geht.
Zum zweiten Mal in Folge gewann Großbritannien keine Einzelmedaille
Der Crosslauf in Europa kämpft um seinen Platz in der europäischen Sportöffentlichkeit und macht Fortschritte. 547 Athleten aus 39+1 Nationen (die unter neutraler Flagge startenden Russen) waren nach Lissabon gereist – darunter auch neun Österreicherinnen und Österreicher. Bei weitem nicht die versammelte Europaklasse war am Start, aber dennoch etliche prominente Läuferinnen und Läufer, die über die Landesgrenzen ihrer Heimat bekannt sind.
Medaillenspiegel der Crosslauf-EM 2019 (alle Bewerbe)
1. Großbritannien 5x Gold, 1x Bronze = 6 Medaillen
2. Frankreich 2x Gold, 2x Bronze = 4 Medaillen
3. Italien 1x Gold, 2x Silber, 1x Bronze = 4 Medaillen
4. Norwegen 1x Gold, 2x Silber = 3 Medaillen
4. Türkei 1x Gold, 2x Silber = 3 Medaillen
6. Niederlande 1x Gold, 1x Silber = 2 Medaillen
7. Schweden 1x Gold, 1x Bronze = 1 Medaille
8. Dänemark 1x Gold
9. Irland 2x Silber, 2x Bronze = 4 Medaillen
…
14. Portugal 3x Bronze
15. Spanien 2x Bronze
16. Deutschland 1x Bronze
Medaillenspiegel der Crosslauf-EM 2019 (nur die sechs Einzelbewerbe)
1. Türkei 1x Gold, 2x Silber = 3 Medaillen
2. Norwegen 1x Gold, 1x Silber = 2 Medaillen
3. Schweden 1x Gold, 1x Bronze = 2 Medaillen
3. Italien 1x Gold, 1x Bronze = 2 Medaillen
5. Frankreich 1x Gold
5. Dänemark 1x Gold
7. Niederlande 1x Silber
7. Serbien 1x Silber
7. Slowenien 1x Silber
10. Irland 2x Bronze
11. Spanien 1x Bronze
12. Portugal 1x Bronze
Placing Table der Crosslauf-EM 2019 (alle Bewerbe)
1. Großbritannien 70 Punkte
2. Frankreich 44 Punkte
3. Italien 44 Punkte
4. Irland 41 Punkte
5. Türkei 34 Punkte
6. Portugal 32 Punkte
7. Spanien 27 Punkte
8. Norwegen 24 Punkte
9. Schweden 23 Punkte
10. Deutschland 23 Punkte
…
13. Schweiz 16 Punkte
Placing Table der Crosslauf-EM 2019 (nur die sechs Einzelbewerbe)
1. Italien 24 Punkte
2. Türkei 22 Punkte
3. Großbritannien 19 Punkte
4. Irland 17 Punkte
5. Norwegen 16 Punkte
6. Schweden 16 Punkte
7. Frankreich 15 Punkte
8. Niederlande 12 Punkte
9. Portugal 12 Punkte
10. Schweiz 11 Punkte
…
15. Spanien 6 Punkte
17. Deutschland 4 Punkte
Crosslauf-Europameisterschaften 2019 in Lissabon
European Athletics