Seit das Virus mit der umständlichen Bezeichnung SARS-Cov-2 unser gesellschaftliches Leben voll im Griff hat, wird mehr gelaufen. Sagen viele. Beobachten viele. Das gilt auch für mich, schließlich ist Zeit aktuell nicht mehr das wertvolle Gut früherer Tage, das präzise Organisation erforderte, um viele unterschiedliche Freiheiten neben den Pflichten und Verpflichtungen einzusortieren. Dass die Frequenzen der Laufrunden kürzer und die Distanzen länger werden, stören meinen Körper und meinen Geist nicht. Ganz im Gegenteil: Bessere Fitness hält gesund, so steht’s im Lehrbuch. Im Vergleich zur „prä-coronialen“ Epoche, also vor einem gefühlten Jahrzehnt, hat sich das Laufen aus meinem subjektiven Blickwinkel aber massiv verändert. Zu einer bedenklichen Mutation der Verhaltensweise auf den Laufstrecken, ausgelöst von einem unsichtbaren Virus.
Der Wecker muss gar nicht früh erklingen, um eine morgendliche Laufrunde in friedlicher Ruhe genießen zu können. An Zeitpunkten, an denen sich normalerweise die Stauhotspots des Landes langsam aufzulösen beginnen, befindet sich Österreich in einer Art „viralem Winterschlaf“. Meine bei den ersten Schritten noch leicht träge Beine erwecken zwar nicht den Enthusiasmus der ersten Schwünge auf einer frisch präparierten Skipiste. Aber der strahlend blaue Himmel sorgt für eine tadellose Kulisse, die morgendlichen Sonnenstrahlen über den Berggipfeln und die angenehmen Temperaturen gestatten auch in der Früh eine angenehme Laufkleidung. Die frische Morgenluft über der Stadt dieser Tage erwecken weit im Hinterkopf abgespeicherte Erinnerungen an Kindheit und Jugend am Land. Ein traumhafter Start in den Tag! Jeder Atemzug und jeder Laufschritt ein purer Genuss!
Das freundliche „Guten Morgen“, ein standardisiertes Symbol eines Zusammengehörigkeitsgefühls in der Laufszene, gibt es anscheinend nicht mehr.
Zurzeit wird weniger in den „Running Rush Hours“ abseits der gängigen Arbeitszeiten gelaufen. Läufer wählen den für sie optimalen Zeitrahmen frei. Deswegen sind, so meine Beobachtungen, aktuell die Laufwege bei Sonnenaufgang weniger frequentiert als gewöhnlich. Und noch etwas anderes: Das freundliche „Guten Morgen“ in der Sekunde des auf engen Laufwegen selten von nennenswerter Distanz geprägten Begegnungsmoments war stets eine sehr sympathische Eigenheit unter Läuferinnen und Läufern. Ein standardisiertes Symbol eines Zusammengehörigkeitsgefühls in der Laufszene. Beachtlich konträr zur üblichen, in gewissen Situationen durchaus schätzbaren Anonymität der Stadt, die oft bereits weit innerhalb der eigenen Wohnanlage beginnt. Dieses freundliche „Guten Morgen“ unter Läufern gibt es anscheinend nicht mehr! Es wurde ersetzt durch einen präventiven, oft täuschend ähnlich zu einer Warnung formulierten Zuruf, 30 Meter vor der Begegnung, oder durch Schweigen mit – kontextbedingt – misstrauischem Unterton. Nur nicht sprechen, wer weiß was passiert. Hoffentlich vergessen wir nicht, wenn bessere Zeiten zurückkehren, dass Kommunikation ein essentieller Bestandteil der menschlichen Lebensfähigkeit ist. Nicht nur verbal, sondern auch Gestik und Mimik. Unverdeckt von Masken, Schals und sonstigen Schutzvorrichtungen.
Hoffentlich vergessen wir nicht, wenn bessere Zeiten zurückkehren, dass Kommunikation ein essentieller Bestandteil der menschlichen Lebensfähigkeit ist. Nicht nur verbal, sondern auch Gestik und Mimik.
An diesem Morgen laufe ich fast einen Kilometer, bis ich die erste Menschenseele entdecke. Auf einem asphaltierten Feldweg, zwei Meter breit, die Gegend weithin einsehbar. Bauer und Kuh befinden sich anscheinend noch indoor bei Schritt eins der Grundnahrungsmittelproduktion. Die erspähte Person* unternimmt ihren Morgenspaziergang und kommt auf mich zu. Bzw. ich auf sie. Plötzlich biegt sie im 90° Winkel auf die Wiese ab und beobachtet mich, mindestens fünf Meter im glücklicherweise nicht tauigem Gras, beim Vorbeilaufen. Kein sozialer Muntermacher, denke ich. Ihre selbst für Einkäufe taugliche Nasen-Mund-Schutzmaske verrät mir, dass sie entweder freiwillig oder verpflichtet auf das Erlebnis sauerstoffreiche Frischluft verzichtet oder verzichten muss.
(* Der Terminus „Person“ wird in diesem Beitrag verwendet, weil das Geschlecht der skizzierten Personen genauso wie weitere demographische Merkmale keine Rollen für das Verständnis des Inhalts spielt.)
Das ist nicht „Social Distancing“, das ist die pure soziale Abneigung.
Etliche Minuten später biege ich auf einen Waldweg mit Dimensionen eines Bergwandersteigs ein. Hier, weiß ich von jüngeren Lauferfahrungen, erfordert das Gebot der Stunde – Abstandhalten – eine gewisse Kreativität. Einige lassen sich spontan etwas einfallen, so drastisch wie dieses Mal, ist es selten. Eine frontale Laufbegegnung bahnt sich an. Unerwartet verflüchtigt sich die potenzielle Begegnung, weil die auf mich zu laufende Person ohne Vorwarnung abbremst, eine kleine Böschung hinaufspringt, einige Schritte in den Wald hastet und stehen bleibt. Ich bleibe im Rhythmus, laufe mitten durch das von ihr geschaffene Szenario und werde intensiv angestarrt. Das ist nicht „Social Distancing“, das haben wir dank Digitalität und moderner sozialer Medien ohnehin längst etabliert.
Das ist die pure soziale Abneigung. Strahle ich wirklich die blanke Gefahr aus? Aufgrund der permanenten, omnipräsenten Angstmacherei kann ich ihr nicht anrechnen, diese Signale in vollstem Bewusstsein auszusenden. Immerhin überträgt sich das Virus nicht durch eindringliches Anstarren. Gut für mich. Noch während dieses Gedankens begegne ich einem Läuferpaar, das mit einigen Metern Abstand hintereinander herläuft. In flotterem Tempo als ich. Beide verzichten auf wilde Ausweichmanöver und nicken mir ohne Gesichtsregung zu. Ich grüße freundlich mit Sprachgebrauch, auf meiner Stirn ist also doch nicht „Achtung – Gefahr!“ abgedruckt. Mit der Entsprachlichung unseres bewährten sozialen Verhaltens kann ich an diesem Tag sehr gut leben, mit einer Entkörperlichung nicht. Ein guter Moment für die zweite Hälfte meiner Laufrunde.
Mit der Entsprachlichung unseres bewährten sozialen Verhaltens kann ich an diesem Tag sehr gut leben, mit einer Entkörperlichung nicht.
Nicht selten nutze ich die Gelegenheit eines Morgenlaufs für die Besorgung des anschließenden Frühstücks. Meine Philosophie ist klar: Belohnung muss sein! Dieses Mal war der Stop nicht eingeplant, er wäre auch sinnlos gewesen. Erstmals wird mir klar, warum die eigentlich kleine Bäckerei einen derartig überdimensionierten Parkplatz benötigt. Weil geduldige Menschen die Warteschlange auf durchschnittliche Abstände von fünf Metern pro Person ausdehnen und gerade offenbar viele Lust auf frisches Brot haben. Die Briten wären stolz auf diese Disziplin. Ich spare mir den Rundumblick um zu erörtern, ob die zu Wachhunden der Restriktionen Berufenen das
Warteschlangenverhalten der Kunden heimlich hinter dem Vorhang kontrollieren. Ob die Verkäuferin ein Megafon zur Hand hat, damit ihr „der Nächste bitte“ drinnen draußen auch gehört würde?
Flotten Schrittes und mit ruhiger Atmung verlasse ich die kleine Siedlung. Meine Laufschuhe werden wieder links und rechts von grün flankiert. Ich laufe geradeaus weiter, weil den Weg rechts versperrt ein potenter Steher mit der Information, Parkanlagen seien wegen des Virus gesperrt. Tagtäglich erklärt mir dies eine Stimme aus dem Fernseher ohnehin mehrmals. Die angrenzende Hundespielwiese ziert ein Sperrband, das ich normalerweise beim Laufen begegne, wenn es mich vor einem offenen Kanaldeckel schützt. Schon bald wird dieser Platz ein erschreckendes Symbol dafür sein, welch bizarre Prioritäten in Zeiten dieser Gesundheitskrise politisch diktiert für unsere Gesellschaft gesetzt werden. Schon in Italien wurde die Ausgangssperre in vielen Regionen um den Radius von 200 Metern ab der Haustür gelindert. Ausreichend für ein kurzes Gassi. Ob die Dimension einem Kleinkind zum wohltuenden Schlaf im rollenden Kinderwagen reicht, hat zumindest öffentlich niemand diskutiert. Auch hierzulande bekommen Hunde ihren Platz für ihre Freiheit, leinenlos ihren Bewegungsdrang auszuleben, zurück, während der Kinderspielplatz 800 Meter weiter noch mindestens zwei weitere Wochen abgesperrt bleibt wie eine Baustelle übers Wochenende. Also jener Ort, der kleinen Kindern einen sicheren Rahmen bietet, ihre Freiheit zu zelebrieren, sich nach ihren Regeln zu verhalten und ihren Bewegungsdrang kindgerecht auszuleben.
Auch hierzulande bekommen Hunde ihren Platz für ihre Freiheit, leinenlos ihren Bewegungsdrang auszuleben, zurück, während der Kinderspielplatz 800 Meter weiter noch mindestens zwei weitere Wochen abgesperrt bleibt wie eine Baustelle übers Wochenende.
Der Gedanke verärgert mich. Im konkreten Fall mit positiven Folgen. Eine leichte gedankliche Aggressivität dynamisiert meinen Schritt auf den beiden letzten Kilometern. Die Sonne scheint mir mittlerweile in den Rücken, meine Stirn ist von Schweißperlen bedeckt, mein Wohlbefinden dank der sportlichen Bewegung gut. Wie mag es meinen Landsleuten südlich der Alpen ergehen, die dieses wohltuende Laufgefühl seit fünf Wochen gar nicht mehr erleben dürfen?