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Seit bald drei Jahren hat Soufiane El Bakkali keinen Wettkampf im 3.000m-Hindernislauf mehr verloren. Selten wurde er so gefordert wie gestern Abend bei den Olympischen Spielen in Paris, als er beinahe den entscheidenden Moment anfangs der Schlussrunde verpasst hätte. Mit letzter Kraft holte er den Amerikaner Kenneth Rooks und den Kenianer Abraham Kibiwot noch ein. Dafür war sein unwiderstehliches Finale auf den letzten 200 Metern notwendig. Hauptkontrahent Lamecha Girma wurde nach einem heftigen Sturz ins Krankenhaus gebracht, nach heutigen Entwarnungen dürften schlimme Befürchtungen Gott sei Dank nicht eingetreten sein.
Eine Stadiondiagonale trennte die beiden Pole der Emotionsskala nach dem 3.000m-Hindernislauf-Finale der Männer. Auf der einen feierte Soufiane El Bakkali sein viertes globales Gold in Folge bzw. seinen zweiten Olympiasieg nach Tokio. Und er ließ sich feiern. Ausgiebig, ausgelassen. Luftlinie gut 100 Meter weiter konzentrierte sich die medizinische Rettungskette auf die Betreuung seines schwer gestürzten Kontrahenten Lamecha Girma. Der 23-Jährige wurde, nach einer kurzen Zeit der Bewusstlosigkeit, sorgfältig für seinen Abtransport via Trage und Krankenwagen ins Krankenhaus vorbereitet. Am heutigen Morgen gab es Entwarnung aus dem äthiopischen Lager. Girma habe keine lebensgefährlichen Verletzungen erlitten und erhole sich in Ruhe im Krankenhaus, heißt es in sozialen Netzwerken, unterstützt mit einem Foto. Stunden später vermeldeten Agenturen, dass Girma ohne schwerere Verletzungen davongekommen sei.
Es war wahrhaftig ein Schockmoment, denn der Sturz des Weltrekordhalters war heftig. Die entscheidende Rennphase hatte gerade begonnen. Das Favoritenduo El Bakkali und Girma hatte die Beschleunigung in der Schlussrunde fast verschlafen, weswegen sie mit Vehemenz die Gegengerade hinunterjagten und dabei überholen mussten. Weit über 20km/h schnell. Am Hindernis lief El Bakkali ganz außen, der Kenianer Kibiwot innen und Girma in der Mitte. Der Äthiopier fädelte mit dem Nachziehbein an der Barriere ein, was eine Rotationsbewegung in seinem Körper auslöste. Mit voller Wucht prallte der Äthiopier mit dem oberen Rückenbereich auf die Laufbahn und schlug wohl auch mit dem Hinterkopf auf.
Er blieb bewusstlos liegen. Während der Wettkampf auf der anderen Seite des Stadions sein Finale fand, eilten Sanitäter schnell herbei und kümmerten sich um das Sturzopfer. In stabiler Seitenlage und mit einer angebrachten Halskrause, aber wieder halbwegs bei Bewusstsein startete der Krankentransport. Bedächtiger Applaus zur Aufmunterung unterbrach die Jubelstürme des Publikums auf der anderen Stadionseite.
Dass Lamecha Girma, der im letzten Jahr den langjährigen Weltrekord auf eine Zeit von 7:52,11 Minuten verbessert hat, nach vier Silbermedaillen bei globalen Meisterschaften dieses Mal leer ausging, ist eine unnötige Randnotiz. Nur ein statistischer Fakt. Während ihm im Krankenbett Genesungswünsche erreichen, beginnt für den 23-Jährigen genau dieser Prozess.
Beim Diamond-League-Meeting in Zürich im Jahr 2021 sorgte der Kenianer Benjamin Kigen dafür, dass der damals frisch gekürte Olympiasieger Soufiane El Bakkali zuletzt nicht als Sieger eine Ziellinie überquerte. Seither sind es nicht viele Wettkämpfe, die der marokkanische Star absolviert hat und insbesondere kaum welche gegen seinen Rivalen Lamecha Girma bei Meetings mit schnellen Rennen. Aber auf seiner Habenseite sind die WM-Titel 2022 und 2023 sowie der Olympiasieg 2024, weil der 28-Jährige in Meisterschaftsrennen dank meisterhaften letzten 200 Metern kaum zu besiegen ist.
Das musste gestern auch der furiose Kenneth Rooks, der sich in der Lage der absoluten Sensation wähnte, erkennen. „Es gibt nur einen Gewinner, ich bin froh, dass ich es bin. Es war eine tolle Erfahrung mit so vielen marokkanischen Fans im Stadion“, wurde der Goldmedaillengewinner auf der Website der Olympischen Spiele zitiert.
Die Jubelarien auf Soufiane El Bakkali waren im Moment seines Triumphs mehr als berechtigt. Er ist nun zweifacher Olympiasieger und zweifacher Weltmeister, hat außerdem zwei weitere EM-Medaillen. Laut „Let’sRun.com“ haben außer ihm nur Mondo Duplantis (Stabhochsprung) und Ryan Crouser (Kugelstoßen) bei den Männern alle globale Titel nach der Pandemie gewonnen. Mit seinem Back-to-back-Erfolg unter Olympischen Ringen hat er sich auf ewig in die Geschichtsbücher verankert. Iso-Hollo Volmari aus Finnland war in den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts der Letzte, dem dieses Kunststück in dieser Disziplin gelang. Auch Ezekiel Kemboi ist zweifacher Olympiasieger, zwischen seinen Triumphen in Athen 2004 und London 2012 lag jedoch jener von Brimin Kipruto 2008.
Alter: 28
Nationalität: Marokko
🥇🥇 Olympiasieger 2021 & 2024
🥇🥇 Weltmeister 2022 & 2023
🥈 WM-Silber 2017
🥉 WM-Bronze 2019
Seine Erfolge sind es, die die Leichtathletik seit Jahren zieren. Denn die nordafrikanische Nation kommt lange nicht an Erfolge der Vergangenheit heran. Das ist El Bakkali bewusst, der seine Stellung im marokkanischen Sport als Nationalheld auch für kritische Äußerungen nutzt. Vor eineinhalb Jahren war er einer der Wortführer, als sich viele marokkanische Sportler*innen gegen die geplanten (wohl geringen) Prämien für Olympia-Medaillen in Paris 2024 auflehnten. Sie nutzten dies gleich, um auf die schlechte Sportinfrastruktur im Land hinzuweisen, die es im Vergleich zu anderen nationalen Verbänden abgehängt habe, berichteten marokkanische Medien damals.
Der 24-jährige US-Meister war mit seiner Silbermedaille offenkundig die Überraschung des Rennens, zumal er seine persönliche Bestleistung gleich um fast neun Sekunden auf eine Zeit von 8:06,41 Minuten senkte! Doch der furchtlose Läufer aus einer Kleinstadt im nordwestlichen Bundesstaat Washington nahe der Grenze zu Oregeon überraschte nach dem Vorlauf, den er hinter Girma beendete, mit der Ankündigung, im Finale auf die Goldmedaille loszugehen. Gegenüber „Let’sRun.com“ begründete er, in der Form seines Lebens zu sein und in der Vorbereitung Trainingseinheiten absolviert zu haben, die weit über den Vergleichswerten von früher lagen.
Rooks demonstrierte, dass hinter den Ankündigungen keine leeren Worthülsen steckten. „Let’sRun.com“ schrieb gestern von einer „der inspirierendsten Leistungen der US-amerikanischen Laufgeschichte“ und erinnerte daran, dass Rooks die 15.beste persönliche Bestleistung im 16-köpfigen Feld mitgebracht hatte. Sein Steigerungslauf die vorletzte Zielgerade hinunter, der die Attacke eingangs der letzten Runde einleitete, war getragen von purer Entschlossenheit und großem Glauben. Er überraschte die Favoriten, die sich im Mittelfeld belauert hatten. In 28,3 Sekunden jagte Rooks vom Glockenton zur Zwischenzeit an der gegenüberliegenden Ecke des Stadions und provozierte eine irre Gegengerade von El Bakkali, Girma und Kibiwot, der der Attacke des Amerikaners am schnellsten gefolgt ist.
Am Wassergraben hatte der Marokkaner die Situation wieder im Griff, noch einmal drängte sich Rooks innen in Führung. Seite an Seite ging es über das letzte Hindernis, danach beschleunigte der Nordafrikaner in seiner bekannten Art und siegte in 8:06,05 Minuten. Die Basis seines Erfolgs: die unheimlich starke Schlussrunde von etwa 57,4 Sekunden. Rooks (Schlussrunde 58,0) stemmte sich innen gegen den Endspurt Kibiwots (Schlussrunde 57,8) und blieb 0,06 Sekunden vor ihm. Er gewann wie Landsmann Evan Jager vor acht Jahren in Rio die Silbermedaille. Jager gehörte damals allerdings zu den Mitfavoriten, Rooks, ähnlich wie Landsfrau Courtney Frerichs als Silberne in Tokio 2021, nicht.
Kibiwots Bronzemedaille, genau wie bei der WM 2023, war realistischerweise ein Erfolg. Für die in dieser Disziplin erfolgsverwöhnten Kenianer ist sie jedoch Schadensbegrenzung. Immerhin geht eine beeindruckende Serie weiter: Seit inklusive 1968 stand immer ein Kenianer, sofern Kenia die Spiele nicht aus politischen Gründen boykottiert hat, am Olympischen Stockerl dieser Disziplin.
Die Olympischen Leichtathletik-Bewerbe werden mit Ausnahme der Geh- und Marathonbewerbe im Stade de France in Saint-Denis in der Metropolregion von Paris ausgerichtet. Charakteristisch ist die in pink gehaltene Laufbahn. Die Wettbewerbe werden von einem bemerkenswerten Zuschaueraufkommen und großartiger Atmosphäre im Stadion begleitet.
Alle Ergebnisse findest du auf der offiziellen Website:
Die guten Nachrichten aus dem Krankenhaus mögen heute das Gefühl der Erleichterung über das äthiopische Team legen, doch mit dem Endresultat des gestrigen Wettkampfs kann die Laufnation, die weiterhin ohne Olympische Goldmedaille in dieser Disziplin bleibt, kaum zufrieden sein. Die Teamtaktik zugunsten Girmas gestern war offensichtlich und niemand kann einschätzen, ob sie ohne Sturz vielleicht zum Erfolg geführt hätte. Samuel Firewu, am Ende Sechster, im speziellen schlug von Beginn an, unterstützt von Getnet Wale, am Ende Neunter, ein hohes Tempo an. Der erste Kilometer war nach nicht einmal 2:40 Minuten absolviert.
Doch in der Mittelphase ging der Schwung verloren und wie schon im 5.000m-Lauf schien den Äthiopiern der Mut zur eigenen Courage abhanden zu kommen. Die Folge war, dass plötzlich der Kenianer Simon Koech vorne mitorganisierte, das Feld sich zusammenpferchte und eine große Gruppe von elf Läufern binnen einer guten Sekunde, teilweise aufgeteilt auf drei Bahnen, in die letzte Runde ging. Sowohl Girma (bei der Glocke nur Neunter) als auch El Bakkali (bei der Glocke Siebter) gingen dieses Risiko ein, konnten sich jedoch in der vorletzten Runde aus dem Pulk über außen befreien.
So sehr das europäische Abschneiden in Paris in den Laufdisziplinen bisher überzeugte, der 3.000m-Hindernislauf ist seit Jahren eine Schwachstelle in Europas Laufszene. Seit Mahiedine Mekhissi-Benabbad nicht mehr aktiv ist. Das zeigt auch das Niveau bei den letzten Europameisterschaften, im internationalen Vergleich ist der Abstand noch exklatanter – nicht nur im Vergleich zu den Afrikanern.
Einzig der Spanier Daniel Arce überstand die Vorläufe und wurde im Finale Zehnter. Er war im übrigen beteiligt an der kuriosesten Szene: Im körperbetonten Zweikampf mit ihm verpasste der Kenianer Amos Serem, einer der schnellsten im bisherigen Jahr, im Vorlauf einen Wassergraben, musste abbremsen, umdrehen, und das Hindernis fast aus dem Stand überspringen. Der Kenianer jagte dem Feld nach, verpasste die Finalqualifikation, wurde aber auf Basis des kenianischen Protests ins Finalfeld aufgenommen. Es war keine unfaire Aktion des Spaniers, eine Berührung war dennoch Auslöser für Serems Tritt auf Abwegen. Im Finale hatte der Kenianer als 14. keine Chance.
Selbst die bei der EM hochgelobten Franzosen, in Rom mit einem Doppelsieg, mussten beim Finale zuschauen. Europameister Alexis Miellet fehlten im Vorlauf fast sieben Sekunden auf einen Finalplatz, Bedrani war nicht am Start. Die größte Überraschung im Vorlauf war das Aus des neuseeländischen Hallen-Weltmeisters im 1.500m-Lauf, Geordie Beamish, dem allerdings aufgrund einer Verletzung die komplette Olympia-Vorbereitung wegbrach. Pech hatte der beste Deutsche, Frederik Ruppert, der sich im Kampf um den letzten Finalplatz in seinem Vorlauf dem Kanadier Jean-Simon Desgagnes gerade um 0,03 Sekunden geschlagen geben musste. EM-Medaillengewinner Karl Bebendorf scheiterte um zwei Sekunden, Velten Schneider hatte erwartungsgemäß keine Chance.
Dafür war das Finale ein Rennen für die Nordafrikaner. Neben El Bakkali überzeugten auch die Tunesier Mohamed Amin Jhinaoui und Ahmed Jaziri. Ersterer verbesserte den tunesischen Landesrekord zum bereits dritten Mal binnen zwei Monate auf eine Zeit von 8:07,73 Minuten, Zweiterer seinen „Hausrekord“ um fast sieben Sekunden auf eine Zeit von 8:08,02 Minuten.
Diese statistischen Zahlen mögen das unglückliche Abschneiden der Positionen vier und fünf, bei Olympischen Spielen irgendwie immer ungut, etwas kaschieren. Auch, dass zur Medaille letztendlich reichlich fehlte. Das hatte im übrigen auch mit dem Sturz von Girma zu tun, denn alle dahinter laufenden mussten dem am Boden liegenden Äthiopier ausweichen oder präventiv einen Umweg laufen. Daher war das Feld 200 Meter vor dem Schluss schon entscheidend in die dreiköpfige Spitzengruppe und die Gruppe dahinter geteilt.
Autor: Thomas Kofler
Bilder: © Dan Vernon for World Athletics