10:30 Uhr. 11:30 Uhr. Seit die Startzeiten für die Marathonläufe bei den Europameisterschaften bekannt sind, ist das Unverständnis in der Szene groß. Im Athletenkreis gibt es niemanden, der diese Entscheidung gutheißt oder gar darüber jubelt, Trainer und Betreuer schütteln nur den Kopf. Die Bilder aus Doha 2019 und Sapporo 2021, wo Marathonläufe trotz Verschiebungen an die Ränder der Tageszeiten verdammt schwierige Bedingungen mit sich brachten, sind noch frisch, sie wurden nicht oder wenig berücksichtigt. Die Entscheidung wurde bereits vor Monaten als unverrückbar verkündet, zuletzt gab es von Seiten European Athletics ein Kompromissangebot. Bis am heutigen Freitag wolle man entscheiden, im Falle von ungünstigen Wetterbedingungen die Startzeiten zu verlegen. Bis zur Veröffentlichung dieses Artikels gibt es keine bekannten Neuigkeiten, irgendwie kein Wunder.
„Verschieben Sie die Startzeiten!“
Zu Wochenbeginn wiederholte eine Gruppe von 51 Athleten, darunter WM-Medaillengewinnerin Lonah Chemtai Salpeter, den Protest gegen die Startzeiten. Die Athleten forderten eine Verlegung, um „seriöse Risiken“ für die Gesundheit aufgrund der hohen Temperaturen zu vermeiden. Sie warnten vor Hitzekrämpfen, Kollaps oder Hitzschläge. Die Initiative wurde initiiert von den deutschen Teams, die den Schutz der Gesundheit der teilnehmenden Athletinnen und Athleten als höchstpriorisierende Komponente festzulegen forderten, bei allem Verständnis für den Optimierungsversuch der Präsentation ihrer Sportart. „Verhindern Sie einen gefährlichen Hitze-Marathon. Verschieben Sie die Startzeiten!“, ist im Offenen Brief an den Europäischen Leichtathletik-Verband zu lesen. Von European Athletics kam nur eine kurze Reaktion: Man wolle die Situation evaluieren und diverse relevante Faktoren berücksichtigen. Man wolle keinesfalls Ratschläge von medizinischen und technischen Delegierten übergehen und bis spätestens 12. August, also heute, treffen. Die Frist verfiel ohne Neuigkeiten.
„Ab 28°C ist eine Absage sinnvoll“
Erst am gestrigen Donnerstag bestätigte Karsten Hollander, Arzt des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), in einem Interview mit der ARD, dass die deutschen Marathonteams sich auf einen Hitzemarathon mit Temperaturen bis zu 30°C in der Mittagszeit einstellen. „Ab 25°C aufwärts steigt das gesundheitliche Risiko von Hitzeerkrankungen im Langstreckenlauf um ein Vielfaches an“, mahnt er und nennt auf Basis von europäischen und amerikanischen Studienerkenntnissen die Temperatur von 28°C als Grenze, ab der eine Absage bzw. eine präventive Verlegung der Startzeit als sinnvoll zu erachten ist.
Hohe Belastung auf den Körper
Im Gespräch mit RunAustria erklärt Österreichs Marathonrekordhalter Peter Herzog (Union Salzburg LA), der nicht zuletzt mit seinem Auftritt bei den Olympischen Spielen, aber davor auch schon bei der EM in Berlin und bei einem Wien Marathon Erfahrungen mit Marathonlaufen bei sommerlichen Temperaturen gemacht hat, die Problematik, die für Spitzenläuferinnen und Spitzenläufer entsteht, wenn die Bedingungen sich so weit weg von den idealen Marathonbedingungen befinden (hoher einstelliger oder ganz niedriger zweistelliger Temperaturenbereich) wie jene, die für Montag in München angesagt sind. Die Prognosen sehen Temperaturen im höheren 20er Bereich zur Mittagszeit vor, also richtig sommerlich und weit über dem Durchschnitt für den 15. August in der bayrischen Landeshauptstadt. „Die Belastung auf den Körper ist viel höher, man schwitzt mehr, atmet schwer und lechzt nach Kühlung. Ein Hobbyläufer kann bei diesen Voraussetzungen intelligenterweise sein Tempo reduzieren und somit die Belastung eindämmen. Das ist im Spitzensport natürlich nicht möglich“, so der Olympia-Teilnehmer. Da müsse bei jeglichen Voraussetzungen an den individuellen Grenzen operiert werden, die sich bei Hitze natürlich verschieben. Daher mahnt der 35-Jährige zur Vorsicht bei der Leistungsbeurteilung am Montag, sowohl aus Athleten- als auch Journalisten- und Fansicht: „Die individuelle und öffentliche Erwartungshaltung muss komplett von den Zeitvorgaben und Zeitangaben gelöst werden! Das wird bei diesen EM-Marathons wichtig sein.“
Wenn die Kontrolle verloren geht
Das kollektive Unverständnis und die verbale Protestfreude aus dem Athletenkreis kann der Salzburger gut nachvollziehen und hätte sich dem vermutlich angeschlossen, hätte er sich qualifiziert. Es sei auch wichtig, dies öffentlich zu äußern. Aber jetzt gelte es, das zu akzeptieren und sich darauf zu fokussieren, die bestmögliche Leistung zu realisieren. Herzog, der nie ein guter Läufer bei Hitze war, kam mit den sommerlichen Temperaturen beim EM-Marathon 2018 mit etwas günstigerer Startzeit gut zurecht, in Sapporo kam mit der hohen Luftfeuchtigkeit ein erschwerender Faktor hinzu, der in München nicht droht. „In Sapporo war es, wie in einer Sauna zu laufen.“
Bei Hitze empfiehlt der Marathon-Profi, maximal ein gleichmäßiges Tempo anzuvisieren, aber lieber eine konservative erste Marathon-Hälfte zu absolvieren, um bei Kilometer 25 oder 30 zu reagieren, wenn man noch genügend im Tank fühlt. Eine schnellere Anfangsphase habe dagegen meistens eine teure Quittung zur Folge. Dass diese Theorie sich im Wettkampfgeschehen nicht leicht in die Praxis transferieren lässt, liegt in der Natur des Sportlerdaseins. Viele werden mit hoher Motivation ins Rennen gehen und zu schnell anlaufen, wenn die Bedingungen hart sein werden, schätzt Herzog auf Basis seiner Erfahrungen in der Marathonszene. „Das sind alles hochgetrimmte Leistungssportler. Die können über das Limit gehen. Aber bei entsprechenden Hitzebedingungen kommt der Moment, an dem das nicht mehr zu kontrollieren ist, viel früher“, schildert er. In Sapporo habe er selbst gerade noch rechtzeitig die Handbremse gefunden, nachdem er für die Verhältnisse übermotiviert ins Rennen gegangen war. Anderen gelang das nicht immer, was nicht nur Beispiele aus Sapporo, sondern auch aus Doha oder vom Hitzemarathon bei den Commonwealth Games 2018 in Gold Coast belegen. Solche bittere Bilder, die auch die Gesundheit der Athletinnen und Athleten gefährden, will in München niemand sehen.
Hoffnung Wolkendecke
Hoffnung macht Herzog die Wolkendecke, die sich am Montag laut Wettervorhersage über München legen könnte – und die wünscht er seinen Kolleginnen und Kollegen, die an der Startlinie stehen, auch. „Wenn es bedeckt ist, werden das vielleicht trotz der Temperaturen ganz gute Bedingungen. Die direkte Sonneneinstrahlung, überhaupt wenn die Sonne hoch steht, macht einen Riesenunterschied. Sie sorgt für eine massiv höhere Belastung für den Körper“, untermalt er. „Fällt die direkte Sonneneinstrahlung weg, kann man die Hitze mit guter Versorgung und Kühlung einigermaßen kompensieren. Man läuft natürlich immer noch nicht in den individuellen Bestleistungsbereich, aber fühlt sich halbwegs konkurrenzfähig.“ Wie groß der Unterschied tatsächlich ist, möge man selbst oft gar nicht glauben, bis man eigene Erfahrungen damit macht. Das ist ein wesentlicher Grund, warum der heimische Marathon-Rekordhalter erfahrenen Läufern die besseren Karten für ein erfolgreiches Abschneiden in die Hand drückt, so fern es heiß und sonnig wird.
Ein Marathon, ein Leiden
Erfüllt sich die Hoffnung der Wolkendecke nicht, bergen die 42,195 Kilometer durch München viel Stoff für Leidenszeit. Dann hilft ein smartes Management: moderne Kühlungsmöglichkeiten, Eiswürfel und so viel wie möglich Wasser über den Körper schütten, wobei man die Schuhe trocken halten muss. Nur Strategien, ausgerichtet auf individuelle Bedürfnisse, können erfolgsversprechend sein. „Natürlich muss man mehr trinken, aber nicht ein Zuviel an mehr. Dieser Schuss kann mit Magenproblemen schnell nach hinten los gehen. Die Flüssigkeitsversorgung beim Marathon ist gerade bei diesen Bedingungen eine schmale Gratwanderung“, gibt Herzog zu bedenken.
Es gehört zur Geschichte von großen Meisterschaftsrennen dazu, dass die sommerlichen Bedingungen eine massive Herausforderung mit sich bringen. WM-Marathons in Sevilla, Osaka oder Doha, der Olympia-Marathon von Sapporo oder auch Vorgänger von EM-Marathons wie jener von Barcelona 2010 ließen sich auch mit einer günstigeren Startzeit nicht verhindern. Der Kritikpunkt gegenüber dem Veranstalter der Multisport-EM in München geht dahin, dass dieser trotz dieses Wissens sich gegen übliche Startzeiten in den Morgenstunden entschieden und in der Planung bewusst das Risiko von hochsommerlichen Mittagsbedingungen zu Lasten der Hauptdarsteller in Kauf genommen hat.
Multisport-Europameisterschaften 2022 in München
European Athletics