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Flucht nach vorne

1956: Sowjetische Panzer überrollen in Budapest die Revolution. 200.000 Ungarn verlassen das Land. Fast alle kommen zunächst nach Österreich. Auch ein Teil der Sportelite strandet in Wien. Einige werden Österreicher, feiern Siege und leben bis heute hier. Sie waren willkommen und sorgten für Ärger. Sie erhielten Unterstützung und brachten Ansporn. Die Talente eines Weltrekordlers blieben ungenutzt, so dass er sich wieder verabschiedete. Eine 60 Jahre alte Geschichte vom Laufen, heute erzählenswerter denn je.
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Flucht nach vorne

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Europa 1956: Sowjetische Panzer überrollen in Budapest die Revolution. 200.000 Ungarn verlassen das Land. Fast alle kommen zunächst nach Österreich. Auch ein Teil der Sportelite strandet in Wien. Einige werden Österreicher, feiern Siege und leben bis heute hier. Sie waren willkommen und sorgten für Ärger. Sie erhielten Unterstützung und brachten Ansporn. Die Talente eines Weltrekordlers blieben ungenutzt, so dass er sich wieder verabschiedete. Eine 60 Jahre alte Geschichte vom Laufen, heute erzählenswerter denn je.

Die Zwei aus dem Gefängnis

„Ich bin am 31. Oktober 1956 frei gekommen. Meine ganze Familie war eingesperrt. Ich war für zehn Jahre verurteilt. Mein Freund Benö Molnar für acht Jahre. Später wurde die Strafe bei ihm auf sechs Jahre reduziert. Aber sie konnten uns nicht mehr versorgen, deshalb haben sie die Gefängnisse geöffnet.“

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Laszlo Tanay

Laszlo Tanay, 86, weißhaarig, sitzt in seiner Wiener Altbauwohnung im 3. Bezirk. Ein Violinkonzert aus dem Radio füllt die hohen Räume, als er zu den einschneidenden Ereignissen von vor 60 Jahren zurückkehrt.

Studentenrevolution in Ungarn. Das Land wendet sich von der Sowjetunion ab. Die Rote Armee schlägt den Volksaufstand nieder. Rund 2.500 Ungarn und 720 sowjetische Soldaten sterben bei den Kämpfen. Damals war „Laci“, wie er von Freunden genannt wird, 26, ausgebildeter Forstingenieur und Bronzemedaillengewinner bei der Universiade 1954 im 800 m-Lauf.

Das Jahr vor dem Aufstand erlebte er hinter Gittern. Ein Onkel von ihm war gegen das Regime aktiv. Mehrmals hatte er bei der Familie übernachtet. „Als das bekannt geworden ist, hat man die ganze Familie kassiert“, sagt Tanay. Aus dem Gefängnis ist er zunächst in seine alte Wohnung gegenüber der Universität in Budapest, die er mit Benö Molnar, einem guten Sprinter, geteilt hatte. Dann machte er sich auf den Weg zu seinen Eltern nach Sopron, wo er aufgewachsen ist.

„Am 4. November haben wir im Radio gehört, dass die Russen kommen. Wir sind bei Sopron zu Fuß über die Grenze. In Österreich haben wir in einer Schule Suppe bekommen. Man hat uns mit einem Autobus zum Zug gebracht und dann nach Judenau in ein leeres Schloss. Es wurde schnell für Flüchtlinge adaptiert.“ Rund 800 Ungarn waren damals im vor dem Verfall stehenden Schloss Judenau in der Nähe von Tulln untergebracht. Mit Unterstützung des Malteser Ritterordens kamen Tanay und später auch Molnár nach Wien.

Die Bekanntschaft mit einem Studentenpaar brachte sie zu Hans Hajek. Der langjährige Direktor der „Austria-Einkaufsorganisation“, einer Tochtergesellschaft der Österreichischen Tabakregie, wurde ihr Mentor und mit einer Wohnung in der Weyrgasse ihr erster Quartiergeber. Als Hajek, der früher selbst aktiver Läufer beim „Wiener Athletiksport Club“ war, von den sportlichen Fähigkeiten der beiden Ungarn hörte, sagte er zu ihnen: „Geht zum WAC und macht dort Leichtathletik!“

Der „Sir“ aus Melbourne

Kurz bevor Sándor Rozsnyói nach Wien gekommen ist, war er zwei Stunden lang Olympiasieger. Am 29. November 1956 ist er im Finale über 3.000 m Hindernis der Spiele von Melbourne zunächst Zweiter geworden. Der Brite Chris Brasher war als Erster über die Ziellinie gelaufen, wurde aber disqualifiziert, weil er seine Gegner gerempelt haben soll. Rozsnyói, damals Weltrekordhalter, wurde zum Olympiasieger ausgerufen.

Der britische Verband legte Protest ein. Die Jury trat zusammen und befragte die Finalteilnehmer. Alle standen ungeachtet eigener Nachteile zu Brasher. Auch Rozsnyói, der die Goldmedaille praktisch schon in Händen hielt, sagte, er sei nicht behindert worden. So feierte Brasher, betreut vom aus Wien stammenden Trainer Franz Stampfl, einen von niemandem erwarteten Erfolg.

Rozsnyói erhielt Silber, und sein Ansehen stieg in lichte Höhen. „Er galt durch seine Aufrichtigkeit als echter Sir. Bei den Australiern und Engländern war er extrem geschätzt“, erinnert sich Österreichs Mittelstrecken-Ass Rudolf Klaban. Jahre später wurde Rozsnyói mit dem „International Fair Play Award“ ausgezeichnet.

Olympia als Lebensentscheidung

Das Ende der Olympischen Spiele von Melbourne wurde für ihn, wie für viele ungarische Sportler, zu einer Lebensentscheidung. Sollte er zurück ins Ungarn der niedergeschlagenen Revolution oder anderswo einen neuen Anfang machen? Laufstar Laszlo Tábori und Erfolgstrainer Mihály Iglói, die Kernzelle des ungarischen Laufwunders der 1950er Jahre, wanderten in die USA aus. Sándor Rozsnyói hingegen flog nach Wien, wo sich bereits seine Frau und sein erster Sohn aufhielten. Eine Tante Rozsnyóis hatte ein Juweliergeschäft in der Rotenturmstraße. Von ihr bekamen sie Unterstützung und Unterkunft.

Der Hindernisläufer und ausgebildete Sportlehrer Rozsnyói suchte nach Möglichkeiten, einen Beruf auszuüben und auch in Wien zu laufen. Mit Laci Tanay war er bereits in Ungarn bestens bekannt gewesen. Auf Trainingslagern teilten die beiden stets das Zimmer. So fanden sich ihre Wege beim WAC.

Wenig später nahm mit Josef Cegledi ein weiterer starker ungarischer Läufer Kontakt auf. „Die vier sind eines Tages beim WAC erschienen“, erinnert sich Helmut Hofmann, damals ein junger Sprinter, später maßgeblicher Leichtathletik-Funktionär und Präsident des Wiener Leichtathletik-Verbandes.

Im Vorstand des 1896 gegründeten WAC war die „bessere Gesellschaft“ vertreten. Die honorigen Herren traten mit der Bitte an die Leichtathletiksektion heran, sich dieser Leute anzunehmen. Das wurde mit großem Einsatz gemacht. Einerseits herrschte die Grundstimmung vor, dass man den Ungarn einfach helfen wollte, andererseits waren sie als sportliche Verstärkung für den Club hochwillkommen. Anders als viele der besten ungarischen Fußballspieler, darunter die spätere Real-Madrid-Legende Ferenc Puskás, die sich damals einige Monate in Wien aufhielten und in Mariahilf in einem Hotel gut logierten, war für die Läufer klar: Sie waren gekommen, um zu bleiben.

„Warum ist das gut?“

„Das ist gut, dass jetzt die Ungarn gekommen sind“, sagte Rudi Klaban Senior 1956 zu seinem gleichnamigen Sohn, den er im Mittelstreckenlauf trainierte. „Warum ist das gut?“, entgegnete der damals 18-Jährige, der später dreimal an Olympischen Spielen teilnehmen sollte. „Da brauchst du nicht so weit fahren, damit du Gegner hast“, antwortete der Senior.

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Rudolf Klaban

Diese pragmatische Zugangsweise erwies sich als äußerst fruchtbar. Die Laufduelle Klabans mit Laszlo Tanay und vor allem mit Josef Cegledi wurden legendär. „Es war ein enormer Ansporn für mich, und wir wurden gute Freunde“, erinnert sich Klaban, der als junger Läufer von der Konkurrenz sehr profitiert hat.

In erster Linie waren die Ungarn willkommen und wurden freundlich unterstützt. Beide Seiten haben sich sehr bemüht. „Die Aufnahme von uns hat auf diese Weise gut funktioniert. Es sind viele Freundschaften aus dem Sport entstanden. Stimmung war eben so, dass man sich gegenseitig hilft“, blickt Laszlo Tanay zurück. „Wir konnten ein bisschen Deutsch und wollten es unbedingt besser lernen. Benö und ich haben immer nur Deutsch gesprochen, auch wenn wir zu zweit waren. Und viel Zeitung gelesen. Wir haben nicht alles verstanden, aber so haben wir angefangen.“

Kooperation und Irritation

Die Gegenwart der ungarischen Sportler löste verzweigte Wirkungen aus. Aktion und Reaktion. Das Alte und das Neue. Das Vertraute und das etwas Fernere. Ansporn und Ärger. „Es sorgte auch für Irritationen, weil plötzlich ‚Ungarn‘ die Meistertitel holten. Manche haben das Handtuch geworfen, andere stachelte es aber auch an“, erzählt Helmut Hofmann, der zu den vier Ungarn freundschaftlichen Kontakt begründete. „Die Fähigkeiten ausländischer Sportler wurden manchmal überhöht, weil die Meinung vorherrschte, dass wir ja selbst nichts zustande bringen.“

Entsprechend fielen die Reaktionen aus, als Rudi Klaban bei den österreichischen Staatsmeisterschaften 1957 in Leoben im 1.500 m-Lauf mit neuem Juniorenrekord vor Laszlo Tanay siegte. ÖLV-Trainer Franz Peterlik beglückwünschte den Wiener Jungstar – „Blumen habe ich auf der Wiese keine gefunden“ – mit einem Distelstrauch. Klaban über diese Szene: „Peterlik, dieser harte Mensch, der nie jemanden gelobt hat, war so begeistert, weil ich gezeigt habe, dass es hier auch jemanden gibt, der schnell laufen kann.“

Sándor Rozsnyói, der Mann mit den größten sportlichen Talenten, brachte sich zunächst hauptsächlich als Trainer ein. „Viele haben mit ihm im Prater trainiert. Er sprach sehr gut Deutsch, war eine Persönlichkeit und hatte den richtigen Schmäh. Es waren harte Programme. Er verbreitete und erklärte die Methoden ganz offen und machte keine Geheimwissenschaft daraus“, beschreibt Helmut Hofmann seine Arbeit.

Rozsnyóis Engagement und seine Anziehungskraft sorgten für ein grobes Zerwürfnis im WAC. Der damalige Trainer Friedrich Zimmermann konnte sich familiär bedingt zu dieser Zeit nur wenig um die Leichtathletik kümmern. Rozsnyói füllte in gewisser Weise eine Lücke aus. Er hatte nie etwas gegen Zimmermann, aber dieser sah ihn, was man verstehen kann, als Konkurrent. Es gab ausgiebige Vermittlungsversuche, doch Zimmermann verließ tief verärgert den Verein.

An anderer Stelle funktionierte die Kooperation unter Trainern hingegen sehr gut. „Mein Vater und Rozsnyói haben sich zusammengeredet“, erinnert sich Rudi Klaban. Rozsnyói war der Trainer von Volker Tulzer, der in den 1960er Jahren zum kongenialen Partner, Freund und Gegner von Klaban über 800 und 1.500 Meter geworden ist. „Alle 14 Tage haben sie Volker Tulzer und mich zusammengespannt für ein ‚besonderes‘ Training. Wir hätten die beiden jedes Mal durch Sonne und Mond schießen können!“, berichtet Klaban von den extraharten Läufen, die immer auf der Intervallmethode beruhten.

Die rein sportliche Bilanz des Quartetts Rozsnyói, Tanay, Cegledi und Molnár in und für Österreich kann sich mehr als sehen lassen: 20 österreichische Meistertitel, einige zum Teil langjährige österreichische Rekorde, wichtige Erfolge bei Länderkämpfen sowie zwei Medaillen bei der Universiade 1957 stehen zu Buche.

Unterstützung und ihre Grenzen

Die Neuen setzten sich stark in Szene. Die Erfolge der „Ungarn“ wären aber ohne guten Willen, praktische Hilfe und Unterstützung im Hintergrund nicht möglich gewesen. Wahrscheinlich hätten sie sich sonst ausschließlich der Sicherung ihrer Lebensgrundlagen widmen müssen. Denn das Laufen war ein Feierabendprogramm, kein Beruf. „Man hat sich eine Blutauffrischung für den lahmen österreichischen Sommersport versprochen, vor allem für die Leichtathletik“, so Rudolf Klaban.

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 Wien, 1957: „Weltrekordler Rosznyoi WAC beigetreten“

Hinter den Kulissen war das Österreichische Olympische Comité aktiv bemüht. Dr. Rudolf Nemetschke, damals ÖOC-Vizepräsident sowie IOC-Mitglied in den Jahren 1969-1976, vermittelte Laszlo Tanay eine Stelle in seinem Bauunternehmen Rella & Co., wo dieser sein Ingenieurstudium gut einsetzen konnte. ÖOC-Generalsekretär Dr. Edgar Fried, früher selbst aktiver Leichtathlet und Staatsmeister über 800 und 1.500 Meter in den Jahren 1915 und 1916, arbeitete an der raschen Einbürgerung der Ungarn.

Bereits Anfang Juni 1957, nur ein halbes Jahr nach ihrer Ankunft, erhielten alle vier die österreichische Staatsbürgerschaft. „Es gab eine Feier, Reden und Gratulationen im Wiener Rathaus. Das war durch den Sport möglich, sonst hätte es länger gedauert“, so Laszlo Tanay. Aus den Exil-Ungarn wurden Ex-Ungarn. So konnten sie bereits 1957 erstmals an österreichischen Staatsmeisterschaften teilnehmen. Benö Molnár über 400 Meter und Josef Cegledi über 800 Meter holten prompt die Titel. Cegledi holte im gleichen Jahr bei der Universiade in Paris Gold über 1.500 Meter und Silber über 800 Meter.

Der offizielle Support stieß jedoch außerhalb des Landes an Grenzen. Aus der erhofften Verstärkung bei Europameisterschaften und Olympischen Spielen wurde nichts, denn Ungarn erteilte keine internationale Freigabe. Sándor Rozsnyói und Josef Cegledi waren 1958 mit der österreichischen Mannschaft bereits nach Stockholm zu den Europameisterschaften gereist, nur um dort zu erfahren, dass sie nicht starten durften. „Es gab große Aufregung in den Medien, aber so waren eben die Regeln der IAAF.

In der Leichtathletik hätte man das eigentlich wissen müssen. Man hat aber gemeint: ‚Das neutrale Österreich würde ja eine Ausnahme kriegen. Das ÖOC mit seinen Verbindungen würde das hinkriegen.‘ Ein Blödsinn!“, so Rudi Klaban, der damals bei seiner ersten Europameisterschaft am Start war.

Auch im Vorfeld der Olympischen Spiele von Rom 1960 ließ man das einflusslose Österreich diplomatisch ins Leere laufen. Ein ÖLV-Antrag auf Regeländerung bei der IAAF wurde nur zum Teil angenommen, ein Start der Ex-Ungarn blieb weiter unmöglich. Cegledi wäre für Rom in guter Form gewesen. So beendete er seine internationale Laufbahn nicht als Olympiateilnehmer, sondern mit einem Sieg über 1.500 Meter beim „US-Athletenmeeting“ in Bern, einer hochkarätigen Olympiageneralprobe für das gesamte US-Team und einige europäische Läufer im August 1960.

Die „Ungarische Olympiade“

Eine knappe „Olympiade“ lang waren Laszlo Tanay, Josef Cegledi und Benö Molnár als Läufer in Österreich aktiv. Ab 1960 ließen sie ihre sportlichen Aktivitäten auslaufen. „Mich hat der Sport immer interessiert, aber auch der Beruf“, bringt es Laszlo Tanay auf den Punkt. Denn vom Laufen konnte niemand leben. „Ich habe sehr viel zu tun gehabt in der Firma. Ich hatte damals die Bauleitung über eine Brücke von der Reichsbrücke hinunter auf den Hubertusdamm. Außerdem haben meine Frau und ich unser erstes Kind erwartet. Das Training ist einfach zu aufwendig geworden“, so Tanay über das Ende der Sportlerlaufbahn.

Er gründete später sein eigenes Zivilingenieur-Büro, das er bis ins hohe Alter erfolgreich betrieben hat. Josef Cegledi, der in Ungarn ein Wirtschaftsstudium abgeschlossen hatte, fand Arbeit bei BP am Schwarzenbergplatz und in der Länderbank. Benö Molnár konnte eine Stelle im Porzellangeschäft Rasper & Söhne am Graben antreten und blieb in dieser Branche tätig. Alle drei leben 60 Jahre nach ihrer Ankunft in Österreich noch in bzw. nahe Wien, Tanay und Molnár bei guter Gesundheit, Cegledi leidet an Parkinson.

Luftblasen für Rozsnyói

Es ist eine seltsame, doch bezeichnende Ironie, dass ausgerechnet Sándor Rozsnyói in Österreich keinen Platz finden konnte. Er war der weitaus erfolgreichste Läufer unter den vieren – Olympiazweiter, Europameister, Weltrekordler – zudem ein geborener Ballesterer, Mitglied der ungarischen Jugend-Nationalmannschaft im Basketball und ausgebildeter Sportlehrer.

Er wollte im Sport tätig sein. Doch er musste sich mit Versprechungen und Vertröstungen begnügen. „Er ist nicht schlecht behandelt worden in Wien, aber es gab keinen Job, der seinen Fähigkeiten entsprochen hat. In Wien wäre er verkommen“, so Helmut Hofmann. Als Trainer beim WAC und für den Leichtathletik-Verband konnte Rozsnyói keinen Lebensunterhalt bestreiten. Die Aussicht auf eine leitende Stelle an einer noch zu schaffenden Sportakademie in Wiener Neustadt erwies sich als politische Luftblase.

Rozsnyói erhielt eine Anstellung am Sportinstitut in der Sensengasse, wo er bei ÖLV-Lehrwart Franz Czerny in der Bibliothek, nun ja, tätig war. Man stellte ihm eine Wohnung im Haus des Sports in der Prinz-Eugen-Straße zur Verfügung. Auf diese Weise hat er immerhin ein Auskommen für sich, seine Frau Erzsébet und deren zwei Söhne – der jüngere Sohn Laszlo kam in Wien zur Welt, Laci Tanay wurde Taufpate.

Aber in Österreich fand sich keine passende Aufgabe für ihn. So wandte er seine Sensoren in Richtung Australien. Qualifizierte Einwanderer waren gefragt und wurden aktiv angeworben. Zudem war er dort seit den Olympischen Spielen von Melbourne 1956 bestens bekannt. Eine Stelle als Sportlehrer in Melbourne, später in Sydney, stand für ihn bereit. Die Akademie in Wiener Neustadt hingegen blieb im Status des Unbestimmbaren, ein vages Objekt des österreichischen Möglichkeitssinns.

So hat er Ende 1963 das Land verlassen und ist mit seiner Familie nach Australien ausgewandert. In den Mitteilungen des Österreichischen Leichtathletik-Verbandes vom 10. Dezember 1963 ist zu lesen: „Auch als Trainer war er Spitzenklasse – er verlangte viel, was nicht jedermanns Geschmack war, aber die, die sich seiner Führung ganz und gar anvertrauten, kamen zu Erfolgen. Tulzer, Gansl, Steinbach, um nur die besten zu nennen, verdanken ihm viel, wenn nicht alles. Wie er sich als Aktiver zu früh zurückzog, verlieren wir ihn auch als Trainer zu früh, denn so schnell wird sich kaum jemand finden, der neben seiner Erfahrung auch genügend Zeit hat, sein Werk weiter zu führen.“

Verbindungen bleiben

Sándor Rozsnyói führte in Australien ein Berufsleben als Lehrer und Leichtathletiktrainer. Er baute Basketball-Veranstaltungen auf und war ein gefragter Interviewpartner bei sportlichen Themen. Viele Verbindungen blieben bestehen. Laszlo Tanay besuchte ihn in Sydney, zuletzt 2007, und auch Rozsnyói hat seine Wiener Freunde besucht.

Am 2. September 2014 ist er im 84. Lebensjahr in Sydney verstorben. Es war sein Wunsch, dass seine Asche in der Familiengruft in Zalaegerszeg beigesetzt wird. Im Juni 2015 brachte Sohn Laszlo mit der Familie die Urne nach Ungarn. Auch Laszlo Tanay ist aus Wien zu dieser Feier für seinen alten Freund gekommen, den er liebevoll Sanyi nennt, ausgesprochen „Shohni“, eine Koseform des Vornamens.

Die Grundlage für österreichische Lauferfolge

Die Grundlagen für die Lauferfolge von Rozsnyói und Co. wurden im Ungarn der 1950er Jahre gelegt. Österreich profitierte von einem Sportsystem, in dem Trainer wie Ferenc Simek und vor allem Mihály Iglói Weltrekordler, Olympiasieger und Europameister hervorbringen konnten. Die Revolu­tion von 1956 verhinderte eine weitere Stärkung dieser Tradition. Seither gab es in Ungarn nur vereinzelte Lauf­erfolge.

Trainerlegende Iglói war hingegen in den USA sehr einflussreich und ein entscheidender Impulsgeber für die amerikanischen Erfolge ab den 1960er Jahren. Er trainierte Meilen-Weltrekordler Jim Beatty sowie 5.000 m-Olympiasieger Bob Schul und beeinflusste Bill Bowerman, den Trainer von Steve Prefontaine und späteren Co-Gründer von Nike.

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 Wien, 1957: „35 Läufer trainierten mit Rosznyoi“

Möglicherweise hätte Rozsnyói in Österreich auf kleinerer Basis etwas Ähnliches bewirken können, aber das ist ein Fall für die kontrafaktische Geschichtsschreibung. Österreichs Sportkultur und Rozsnyói haben nicht zusammengefunden.

Was vom politischen Krisenjahr 1956 im österreichischen Sport dennoch bleibt, ist eine Geschichte, die man kennen sollte. Eine Geschichte von vier Läufern, ihren sportlichen Erfolgen, von der Bereitschaft zur Hilfe im Österreich der Nachkriegsjahre, von Irritationen, die entstanden sind, vom Willen, etwas zur Gesellschaft beizutragen, und von Freundschaften, die der Sport ermöglicht hat. Rudi Klaban: „Auf der Laufbahn waren wir Gegner, aber ich freue mich, wenn ich Lacy Tanay bei unseren jährlichen Treffen sehe.“

Who is who

Sándor Rozsnyói (1930-2014)
Geboren 1930 in Zalaegerszeg (Ungarn), gestorben 2014 in Sydney (Australien)
Olympia-Zweiter 1956, Europameister 1954 und Weltrekordhalter über 3.000 m Hindernis
Vierfacher österreichischer Staatsmeister 1958 (5.000 m, 10.000 m, 3 x 1.000 m, Crosslauf)
Österreichischer Rekordhalter 5.000 m (14:16,8 min) von 1958 bis 1971
Sportlehrer, Trainer
Lebte von 1956 bis 1963 mit seiner Familie in Wien, wanderte dann nach Australien aus

László Tanay (*1930)
Geboren in Sopron / Ödenburg
Bronze bei der Universiade 1954 über 800 m für Ungarn
In Budapest ein Jahr inhaftiert
Achtfacher österreichischer Staatsmeister 1957-60 (4×400 m bis 5.000 m)
Lebt seit 1956 in Wien
Gründer und Leiter eines Zivilingenieurbüros in Wien
Leidenschaftlicher Bridge-Spieler

Josef Cegledi (*1933)
Wirtschaftsstudium in Ungarn
Gold und Silber bei der Universiade 1957 über 1.500 m und 800 m für Österreich
Siebenfacher österreichischer Staatsmeister 1957-60 (800 m, 1.500 m, 3×1.000 m, Crosslauf)
Österreichischer Rekordhalter 800 m (1:49,9 min) von 1957 bis 1959 und 1.500 m (3:43,5 min) von 1957 bis 1963
Lebt seit 1956 in Wien, an Parkinson erkrankt

Benö Molnár (*1931)
In Budapest ein Jahr inhaftiert
Lebt seit 1956 in Wien bzw. Südstadt
Österreichischer Staatsmeister 1957 über 400 m
Mag. Rudolf Klaban (*1938)
Olympiateilnehmer 1960, 1964 und 1968 über 800 m bzw. 1.500 m
23-facher österreichischer Staatsmeister Mittelstreckenlauf
Vielfacher österreichischer Rekordhalter 800 m (1:47,4 min) von 1959 bis 1991 und 1.500 m (3:41,4 min) mit Unterbrechungen von 1957 bis 1978
Konkurrenz und Freundschaft mit Cegledi und Tanay, später mit Volker Tulzer
Lehrer für Sport und Geografie, später Leiter der Abteilung für Trainingslehrer am Institut für Sportwissenschaften der Universität Wien.

Helmut Hofmann (*1934)
Österreichischer Staatsmeister 4×100 m 1956 mit dem WAC
12-facher Wiener Meister, u.a. 400 m und 400 m Hürden
Präsident des Wiener Leichtathletik-Verbandes 1970-1972
Jurist, Absolvent der Wiener Musikakademie, Berufstätigkeit u.a. im Österreichischen Credit-Institut und beim Schallplattenkonzern „Polygram“, Kunsthistoriker, musikwissenschaftliche Arbeiten über Schubert, Konzertpianist, „Leichtathletik-Gedächtnis“, Mitbegründer und ehem. Vorstand der „Aktion 21“, einem Zusammenschluss von Bürgerinitiativen in Wien zur Stärkung der partizipativen Demokratie.

Autor: Andreas Maier
Bilder: © SIP

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