Vielleicht mag es ein kleiner Vorgeschmack für den diesjährigen New York City Marathon am 6. November gewesen sein, bei den Frauen möglicherweise das Marathon-Highlight des Herbsts. Hellen Obiri besiegte beim Great North Run am Sonntag Marathon-Olympiasiegerin Peres Jepchirchir. Vielleicht auch nicht, denn während Obiri nun schon ein bisschen Erfahrungen gesammelt hat, wie man einen schnellen Halbmarathon hinter sich legt, wird der New York City Marathon ihre Premiere über diese Distanz. Und ihre Landsfrau, auch eine begnadete Halbmarathonläuferin, ist der Marathon-Champ: Olympiasiegerin und aktuelle Siegerin beim New York City Marathon und beim Boston Marathon. Bei ihrem Wettkampf-Comeback nach auskurierten Hüftproblemen, die ihren WM-Start verunmöglichten, ist das Comeback als Zweitplatzierte, zwei Sekunden hinter Obiri, möglicherweise ein positives Signal. „Ich fühle mich viel besser, seit die Schmerzen weg sind“, hatte die 28-Jährige im Vorfeld der Öffentlichkeit mitgeteilt. Bei ihrem ersten Auftritt in Newcastle und ihrem ersten Halbmarathon-Wettkampf seit dem WM-Titel in Gdynia 2020 musste sie dennoch ihrer Landsfrau den Vortritt lassen, die eine Zeit von 1:07:05 Stunden verzeichnete. Die 32-Jährige markierte den neunten kenianischen Erfolg in Serie beim Halbmarathon von Newcastle nach South Shields und verteidigte ihren Vorjahressieg. Zwei Siege hintereinander gelangen bei der Traditionsveranstaltung im Nordosten Englands bisher nur Mary Keitany, Liz McColgan und Lisa Martin-Ondieki.
Wichtiger Schritt zum New York City Marathon
Der Sieg beim Great North Run hätte Obiris erster Sieg in ihrem neuen Lebenskapitel werden sollen. Obiris Wechsel in das On-Trainingcamp in Boulder im US-Bundesstaat Colorado, wo sie zukünftig unter dem US-Amerikaner Dathan Ritzenhein trainieren möchte, verzögerte sich auch nach Ende der Weltmeisterschaften aufgrund rechtlich ungelöster Fragen der Aufenthaltsgenehmigung, wie die kenianische Tageszeitung „Daily Nation“ vor einigen Wochen erzählte. Obiri, die aus ihrem Heimatland nach Großbritannien gereist ist, möchte aber unbedingt einige Wochen vor dem New York City Marathon ihren Umzug in die Rocky Mountains vollziehen.
Die Entscheidung beim Great North Run fiel erst zu ihren Gunsten, nachdem das Trio an der Spitze die Küste erreicht hatte und Richtung South Shields abbog. Auf der schier ewig langen Zielgrade hatte Hellen Obiri, zweifache Weltmeisterin im 5.000m-Lauf und amtierende Weltmeisterin im Crosslauf, die Nase vorne. Sie spielte ihre in ihrer Karriere sorgfältig ausgebildete Schlussschnelligkeit aus und siegte in einer Zeit von 1:07:05 Stunden mit zwei Sekunden Vorsprung auf Jepchirchir und fünf Sekunden Vorsprung auf Almaz Ayana, die ihren besten Wettkampf-Auftritt nach der Rückkehr aus einer Babypause zeigte.
Die zweitbeste Äthiopierin, Hiwot Gebrekidan, Zweite des Berlin Marathon im Vorjahr, musste bereits kurz vor der Zwischenzeit bei Kilometer zehn, die die Spitze in 31:41 Minuten erreichte, leicht abreißen lassen, hielt den Rückstand aber konstant gering und schaffte kurzzeitig sogar wieder den Anschluss. Am Ende wurde sie Vierte, 17 Sekunden hinter Obiri. Charlotte Purdue kam als Fünfte in den Genuss der besten Britin des Tages (1:10:11). Sie läuft in drei Wochen den London Marathon. Die beim Great North Run erzielten Leistungen sind nicht Bestenlisten tauglich, da es sich beim größten Halbmarathon der Welt um eine Punkt-zu-Punkt-Strecke handelte. Daher ist auch ein enger Vergleich mit den Bestleistungen Obiris (1:04:22) und Jepchirchirs (1:05:06) nicht angebracht.
Kiplimo der Schnellste von über 50.000
Der Great North Run, die erste Laufveranstaltung, die historisch die Grenze der Ein-Million-Teilnehmer überschritten hat, wurde seinem Ruf nach der größten Laufveranstaltung der Welt neuerlich gerecht. Wie britische Medien berichten, waren 60.000 Läuferinnen und Läufer für den Halbmarathon angemeldet, über 50.000 haben das Ziel an der Küste auch tatsächlich erreicht.
Bei der Rückkehr auf die Originalstrecke nach der Ausnahme-Veranstaltung im vergangenen Jahr war auch das Elitefeld bei den Männern sehr prominent besetzt. Bei für britische Verhältnisse durchaus wohlwollenden Laufbedingungen mit ab und zu auf die Strecke scheinender Sonne wurde der amtierende Weltmeister und Inhaber des Weltrekords, Jacob Kiplimo seiner Favoritenrolle gerecht. Der erste ugandische Sieger des Events – sein ebenfalls angekündigter Landsmann Joshua Cheptegei hatte im Vorfeld abgesagt – lag noch bei Halbzeit der Strecke gleich auf mit dem äthiopischen Debütanten Selemon Barega und dessen Landsmann und Routinier Kenenisa Bekele, nützte die zweite, schnellere Streckenhälfte aber für eine Verschärfung seines Tempos, um auf eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 2:49 Minuten pro Kilometer zu kommen.
Erst fiel der zweitschnellste Marathonläufer aller Zeiten zurück, rund fünf Kilometer vor dem Ziel attackierte Kiplimo erfolgreich. Nach 59:33 Minuten war die erfolgreiche Rückkehr des 21-Jährigen nach England, wo er im Sommer zwei Goldmedaillen bei den Commonwealth Games von Birmingham gewonnen hat, geglückt. „Ich bin hierhergekommen, um zu gewinnen“, stellte er gegenüber dem „The Guardian“ nüchtern fest. Damit endete beim Great North Run eine siebenjährige Erfolgsserie der britischen Läufer mit dem sechsfachen Sieger Mo Farah und Vohrjahresgewinner Marc Scott. Davor war Bekele 2013 der letzte afrikanische Sieger in South Shields.
Barega nach enttäuschendem Sommer Zweiter
Der 40-Jährige beendete seinen Halbmarathon in einer Zeit von 1:01:01 Stunden und schaffte 22 Sekunden hinter seinem Landsmann den Sprung aufs Stockerl. Der 22-jährige Olympiasieger von Tokio im 10.000m-Lauf war zuvor nie einen längeren Wettkampf als über 10.000m gelaufen, nicht einmal einen 10km-Straßenlauf. Nach einer enttäuschenden Freiluft-Wettkampfsaison ohne WM-Medaille und zuletzt Platz sieben beim 5.000m-Lauf im Rahmen des Diamond-League-Meetings von Zürich (siehe RunAustria-Bericht) war der Great North Run ein versöhnliches Saisonende für den Äthiopier.
Japans ehemalige Marathon-Rekordhalter Suguro Osako belegte in 1:01:05 Stunden den vierten Platz, eineinhalb Minuten später folgte Titelverteidiger Marc Scott auf Position sechs als bester Europäer. William Amponsah (1:03:15) hätte einen Landesrekord für Ghana aufgestellt, würden die Leistungen dieser Strecke in die Rekordlisten gültig sein.
„Wunsch der Queen“
Im Gegensatz zu zahlreichen anderen Sportveranstaltungen im Vereinigten Königreich ging der Great North Run am vergangenen Sonntag über die Bühne, seine 41. Auflage stand natürlich auch unter dem starken Eindruck des Ablebens der britischen Langzeit-Königin Elizabeth II. „Ich glaube, der Wunsch der Queen wäre es gewesen, dass Leute in ihrer Community zusammenkommen und das tun, was sie lieben, und um gleichzeitig die beste Version der Charity zu zelebrieren“, begründete Veranstaltungsgründer Brendan Foster gegenüber der Öffentlichkeit via einer Aussendung des Veranstalters. Der Startschuss fiel nach einer Schweigeminute in Gedenken an die verstorbene Monarchin in respektvoller Atmosphäre, neuerlich konnte der Sport den richtigen Mix an Emotionen präsentieren, wie britische Medienberichte schildern. Erstmals seit sieben Jahrzehnten ertönte die britische Nationalhymne vor dem Rennstart mit den Worten „God Save the King“.
Der 5km-Lauf und die Kinderläufe am Vortag wurden dagegen aufgrund des nationalen Ereignisses gestrichen. Sowohl Teilnehmende als auch das Publikum am Sonntag wurde offiziell zu einem respektvollen Verhalten aufgerufen. Beim Great North Run, eine der größten Charity-Initiativen in Großbritannien, wurden geschätzte knapp 29 Millionen Euro gespendet.
Ergebnisse Great North Run 2022
Halbmarathon der Männer
- Jacob Kiplimo (UGA) 59:33 Minuten
- Selemon Barega (ETH) 1:00:39 Stunden
- Kenenisa Bekele (ETH) 1:01:01 Stunden
- Suguro Osako (JPN) 1:01:05 Stunden
- Brett Robinson (AUS) 1:02:06 Stunden
- Marc Scott (GBR) 1:02:28 Stunden
- Yohei Ikeda (JPN) 1:02:42 Stunden
- William Amonsah (GHA) 1:03:15 Stunden
- Calum Johnson (GBR) 1:03:16 Stunden
- Kazuya Nishiyama (JPN) 1:03:57 Stunden
Halbmarathon der Frauen
- Hellen Obiri (KEN) 1:07:05 Stunden
- Peres Jepchirchir (KEN) 1:07:07 Stunden
- Almaz Ayana (ETH) 1:07:10 Stunden
- Hewot Gebrekidan (ETH) 1:07:22 Stunden
- Charlotte Purdue (GBR) 1:10:11 Stunden
- Emy-Eloise Markovc (GBR) 1:11:12 Stunden
- Misaki Hayashida (JPN) 1:12:57 Stunden
- Yuna Daito (JPN) 1:13:33 Stunden
- Lily Partridge (GBR) 1:14:13 Stunden
- Verity Ockenden (GBR) 1:14:30 Stunden
Great North Run