Schlussendlich sorgte ein Lokalmatador für die Story beim 10.000m-Europacup am Samstagabend in Pacé nahe der nordwestfranzösischen Stadt Rennes. Jimmy Gressier, ein wilder, unbekümmerter Läufer voller Potenzial, mit etlichen Erfolgen in den Nachwuchsklassen und Hoffnungen für die Zukunft, fand eine Bühne für seinen wohl stärksten Bahnwettkampf bisher. Der U23-Europameister von 2019 verfehlte in einer Siegerzeit von 27:24,51 Minuten den fast auf den Tag genau 30 Jahre alten französischen 10.000m-Rekord von Antonio Bordello Martins lediglich um 1,7 Sekunden und reihte sich auf Rang drei der ewigen französischen Bestenliste ein. Sein Landsmann Morhad Amdouni war beim Europacup 2021 in Birmingham noch näher an den französischen Rekord herangelaufen. Der 25-jährige Gressier hatte in Pacé zwar die Hilfe der Wavelight-Technologie, die sich für ihn am WM-Limit von 27:28,00 Minuten orientierten, aber keine Unterstützung eines gleichstarken Rivalens und er agierte den Großteil der 25 Runden ohne Windschatten, was bei einem doch merkbaren Wind von vorne entlang der Gegengerade Auswirkungen hatte. Andreas Vojta (team2012.at), der selbst ein gelungenes Rennen in einer persönlichen Bestleistung von 28:06,88 Minuten klar unterhalb des EM-Limits von 28:15,00 Minuten absolvierte (siehe RunAustria-Bericht), schätzte die Leistung des Franzosen aufgrund der Umstände höher ein und siedelte ihn in den Regionen Yemaneberhan Crippas an der Spitze Europas an.
Jimmy Gressiers Kilometersplits: 2:45,52 / 2:45,30 / 2:43,60 / 2:41,03 / 2:44,39 / 2:45,75 / 2:46,11 / 2:46,35 / 2:46,35 / 2:37,11 Minuten
Eine eigene Liga
Gressier unterstrich seine Ambitionen bereits mit den ersten Schritten und setzte sich gleich vehement an die Spitze. Die Idee, mit einem Tempomacher für hohes Tempo zu sorgen, funktionierte schlecht. Gressier war an einem höheren Tempo interessiert und lag das gesamte Rennen nie schlechter als auf Position zwei. Bereits kurz nach dem Durchlauf der 2.000m-Zwischenzeit setzte sich der Franzose an die Spitze, schüttelte mit Carlos Mayo und Aras Kaya seine beiden schärfsten Rivalen bereits auf dem sechsten Kilometer ab und zauberte ein grandioses Solo auf die Bahn, was die französischen Zuschauer mit viel Applaus goutierten. Dann ging es schnell: Nach 8.000m hatte der entfesselte Gressier bereits knapp 90 Meter Vorsprung auf den Spanier, in der Schlussphase überrundete der Franzose etliche Leute, darunter auch den zweiten Österreicher Peter Herzog (Union Salzburg LA) auf dessen vorletzter Runde. Fast eine halbe Minute Vorsprung auf Mayo sprechen eine deutliche Sprache. Nur Kaya und Yann Schrub blieben noch unter 28 Minuten.
Dafür blieben gleich 18 Läufer unterhalb des EM-Limits. In dieser großen Gruppe liefen auch die beiden Österreicher. Herzog fiel anfangs der zweiten Hälfte aus der Gruppe heraus, Vojta agierte bewusst und umsichtig bis auf dem letzten Kilometer und finalisierte einen tollen Auftritt mit einer klaren Bestleistung von 28:06,88 Minuten – Rang vier in der ewigen ÖLV-Bestenliste und das Ticket für München. Herzog verpasste dieses, kletterte aber mit seiner Debütleistung von 28:40,80 Minuten auf Rang sechs der ewigen ÖLV-Bestenliste und verbesserte den 32 Jahre alten Salzburger Landesrekord von Helmut Schmuck.
Cans Solo zum WM-Limit
Fast vergleichbar verlief das Rennen an der Solospitze bei den Frauen. Nach einem gemütlichen Beginn, bei dem Moira Stewartova mit Führungsarbeit den Grundstein für ihren neuen tschechischen Rekord von 32:08,96 Minuten legte, beschleunigte die Spitze auf dem zweiten Kilometer. Zu diesem Zeitpunkt zeigte sich die deutsche Meisterin Alina Reh vorne. Yasemin Can, die die erste Runde mit Sparflamme absolviert hatte und sich in der zweiten in die Spitzengruppe schob, und die Französin Mekdes Woldu folgten der Deutschen, deren Landsfrau Katharina Steinruck hastig das Loch schloss.
Nun war Tempo im Rennen und die Türkin übernahm das Zepter erstmals am Ende der sechsten Runde, als sie mit einer Tempoverschärfung sofort eine Lücke zwischen sich und Reh aufriss. Es war bereits die Vorentscheidung um den Sieg, denn mit einem unheimlich schnellen zweiten Viertel setzte sich Can in ihre eigene Liga ab. Bereits nach nicht einmal vier Kilometern wies sie einen Vorsprung von über 50 Metern auf Reh auf, die längst auch als Solistin unterwegs war. Zur Halbzeit, als Can erste Überrundungen durchführen musste, lag Reh bereits 80m zurück, die Verfolgergruppe weitere 80m.
Yasmin Cans Kilometersplits: 3:18,66 / 3:08,43 / 3:02,68 / 3:03,25 / 3:05,36 / 3:07,37 / 3:09,54 / 3:08,78 / 3:10,54 / 3:05,57 Minuten
Deutschland beste Nation
Mit dieser schnellsten Phase ihres Rennens, das keine Tempomacherin hatte, erreichte Can die Wavelights, die die Pace für das WM-Limit von 31:25 Minuten anzeigten. Das schaffte die Europameisterin von 2016, Olympia-Siebte von 2016 und Olympia-Elfte von 2021 dank einer guten Schlussrunde am Ende in einer Zeit von 31:20,18 Minuten, eine europäische Jahresbestzeit. Es ist ihr erster Triumph beim Europacup, der erste türkische seit den drei Siegen von Elvan Abeylegesse zwischen 2006 und 2008. Reh konnte den Rückstand im letzten Rennviertel im Rahmen halten, in einer Zeit von 31:39,86 Minuten war für die Zweitplatzierte das WM-Limit kein Thema. Dennoch zeigte sie sich mit ihrer Leistung zufrieden und erinnerte an die lange Pause wegen einer Herzmuskelentzündung im Winter. Dafür nahm sie nur Sekunden später ihre Landsfrau Katharina Steinruck in den Arm, die mit einer klaren Bestleistung von 32:03,88 Minuten als Dritte die Überraschung des Rennens war. Da mit Eva Dieterich eine zweite deutsche Läuferin die Top-Ten erreichte, war der Sieg in der Nationenwertung sicher – das gab es in der Geschichte des Europacups noch nie. Allerdings verpasste Dieterich das EM-Limit von 32:20 Minuten, das acht Läuferinnen, darunter die junge Italienerin Anna Arnaudo und Lokalmatadorin Woldu, erzielten.
Ergebnisse 10.000m-Europacup 2022 in Pacé
A-Lauf der Männer
- Jimmy Gressier (FRA) 27:24,51 Minuten *
- Carlos Mayo (ESP) 27:53,12 Minuten
- Aras Kaya (TUR) 27:58,08 Minuten
- Yann Schrub (FRA) 2:59,32 Minuten
- Pietro Riva (ITA) 28:01,07 Minuten *
- Efrem Gidey (IRE) 28:01,50 Minuten
- Filimon Abraham (GER) 28:03,39 Minuten *
- Roberto Alaiz (ESP) 28:04,01 Minuten *
- Nils Voigt (GER) 28:04,81 Minuten
- Gashu Ayale (ISR) 28:05,37 Minuten
- Emmanuel Roudolff (FRA) 28:06,28 Minuten *
- Florian Carvalho (FRA) 28:06,30 Minuten
- Andreas Vojta (AUT) 28:06,88 Minuten *
- Samuel Barata (POR) 28:08,11 Minuten
- Soufiane Bouchikhi (BEL) 28:08,49 Minuten
…
24. Simon Boch (GER) 28:39,29 Minuten
25. Peter Herzog (AUT) 28:40,80 Minuten **
DNF Tadesse Abraham (SUI)
DNF Zerei Kbrom (NOR)
B-Lauf
- Pasquale Selvarolo (ITA) 28:30,35 Minuten *
- Sezgin Atac (TUR) 28:37,38 Minuten
- Nocholae Alexandru Soare (ROM) 28:42,63 Minuten
…
DNF Homiyu Tesfaye (GER)
A-Lauf der Frauen
- Yasmin Can (TUR) 31:20,18 Minuten ***
- Alina Reh (GER) 31:39,86 Minuten
- Katharina Steinruck (GER) 32:03,88 Minuten *
- Valeriia Zinenko (UKR) 32:07,28 Minuten
- Maitane Melero (ESP) 32:08,57 Minuten *
- Moira Stewartova (CZE) 32:08,96 Minuten ****
- Anna Arnaudo (ITA) 32:09,54 Minuten *
- Mekdes Woldu (FRA) 32:11,72 Minuten *
- Abbie Donnelly (GBR) 32:20,82 Minuten
- Eva Dieterich (GER) 32:25,70 Minuten *
…
19. Domenika Mayer (GER) 33:00,29 Minuten
DNF Stephanie Twell (GBR)
B-Lauf der Frauen
- Tereza Hrochova (CZE) 33:08,81 Minuten
- Angelika Mach (POL) 33:12,31 Minuten *
- Rebecca Lonedo (ITA) 33:15,86 Minuten *
- Nicole Egger (SUI) 33:20,39 Minuten *
* neue persönliche Bestleistung
** 10.000m-Debüt
*** neue europäische Jahresbestleistung
**** neuer tschechischer Landesrekord
European Athletics