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Der Olympische Marathon von Paris 2024 ist eine Herausforderung, die für alle neu ist. Nicht nur, weil Olympische Marathons durch den vier Jahres-Rhythmus eine Seltenheit sind. Julia Mayer gehört zu den vielen Olympia-Debütantinnen. Neu ist vor allem die Herausforderung durch die Strecke. Denn der aus historischen Gründen gewählte Marathonkurs verfügt über einen schwierigen und hügeligen Mittelteil mit Steigungen, die eher an Trail- als an Straßenlauf erinnern. Viele mögen eine Chance darin sehen. Mayer auch.
Dass das Vorfreude-Barometer im rasanten Steilflug ist, braucht Julia Mayer (DSG Wien) niemanden mit Fachkenntnis noch erklären. Seit sie vor vier Jahren den Entschluss gefasst hat, Laufsport professionell zu betreiben, schweben die fünf Ringe vor ihren Augen. Seitdem ihr Trainer Vincent Vermeulen sie davon überzeugt hat, in den Marathon zu wechseln, ist der 11. August 2024 der Stichtag, der die Bedeutung all ihres Handels dominiert. Zuerst mit Blick auf die schwierige Qualifikationsleistung von 2:26:50 Stunden, seit dem ÖLV-Rekord von Valencia 2023 inklusive des erbrachten Limits liegt der Fokus auf der Vorbereitung für Paris 2024. Monatelang.
Seit Mittwoch ist Österreichs beste Marathonläuferin in der französischen Hauptstadt. Als einzige weibliche Läuferin der gesamten Nation. Die ersten Eindrücke geben einen Vorgeschmack, warum der 11. August ihr jahrelanges Sehnsuchtsdatum ist. Das Olympische Dorf sei sehr eindrucksvoll, „eine geile Gemeinde“, die aus den Besten der Welt bestehe. Die Organisation hat ein Niveau, das sie noch nicht kennt. Doch deswegen ist sie nicht hier.
Sie ist hier, weil sie Marathon laufen wird. Am Sonntagmorgen, Startschuss um 8 Uhr, wird sie die volle Dosis der Olympischen Atmosphäre spüren. Weil ein kräftiger Sonnentag angesagt ist und weil die Olympische Stimmung in Paris seit fast zwei Wochen rekordverdächtig gut ist, wird die Kulisse in Kombination mit den Schönheiten der Hauptstadt und ihrer Peripherie einmalig. Tour-de-France-Feststimmung auf den Pariser Prachtstraßen. Nur, dass gelaufen wird anstatt in die Pedale getreten. Und vielleicht ein Hauch von „L’Alpe d’Huez“ auf dem Weg nach Versailles.
Die Strecke ist außergewöhnlich, sie ist spektakulär. Der Start befindet sich vor dem Hotel de Ville. Das ist kein Stadthotel, wie der Name fälschlicherweise andeutet, sondern das prachtvolle Rathaus. Gefinisht wird am Esplanade des Invalides, eine der wichtigsten Grünflächen der Metropole. Aus der Stadt hinaus und in die Stadt zurück geht es in langen Geraden entlang der Seine. Aber was dazwischen liegt, ist ungewöhnlich. Aus neutraler Sicht ist es aufregend, weil es das Rennen unvorhersehbar macht. Für Aktive eine Qual. Für Trainer und Taktiker ein Phänomen.
436 Meter im An- und 438 Meter im Abstieg müssen die Marathonläufer*innen an den beiden Tagen absolvieren. Die Männer am Samstag, die Frauen am Sonntag. Der überwiegende Großteil konzentriert sich auf den mittleren 17 Kilometern. Die Zwischenzeit beim Halbmarathon befindet sich kurz nach dem höchsten Punkt der Strecke, auf 183 Metern über dem Meer. Überwiegend wird trotzdem auf breiten Straßen gelaufen, schildert Mayer, die den Kurs bereits im Frühling im Detail unter die Lupe genommen hat. Das verhindert Probleme beim Überholen, lässt den Laufschritt bergan aber noch langsamer anfühlen. Kurz vor Kilometer 30 führt eine Rampe das Feld noch einmal auf eine Höhe von 172 Metern über dem Meer. Und dann geht es auf gut zwei Kilometern flott auf die Pariser Meereshöhe von rund 30 Metern zurück.
Mayers Trainer Vincent Vermeulen lenkte bereits nach Valencia 2023 die volle Aufmerksamkeit direkt auf Olympia. Er begründet das nicht nur mit der Bedeutung des Wettkampfs an sich, sondern auch mit den Spezifika der Strecke: „Wir mussten Julias Fähigkeiten in der Hinsicht der vielen Höhenmeter und der teilweise steilen Passagen verbessern und haben sehr viel dafür investiert.“ Mit dem Verlauf der Trainingsmonate ist der in der Steiermark lebende Holländer zufrieden: „Die Fortschritte verliefen wie geplant, am grundsätzlichen Trainingsaufbau, mit dem wir in den letzten Jahren sehr erfolgreich waren, haben wir ja nicht viel verändert. Von Woche zu Woche wurde sie schneller und hat kein einziges Training wegen Verletzung oder Krankheit ausfallen lassen.“
Mayer hat sich unter seiner Leistung also gezielt auf die Herausforderungen vorbereitet, im doppelten Sinne. Nach der EM in Rom wurden in zwei längeren Trainingslagern Profil und Bedingungen geübt. Im Friaul im Nordosten Italiens das Bergauf- und Bergablaufen. Die 31-Jährige erzählt von üblichen Marathon-Einheiten und Tempoläufen, diesmal halt im hügeligen Terrain, sowie von Intervallen. Bergauf und Bergab. Gnadenloses Schwitzen im mediterranen Sommer Südeuropas, wo es abseits der Küsten manchmal brühend heiß ist. Die Erkenntnis mündet in großem Respekt: „Ich musste feststellen, wie grausam das ist. Und wie grausam daher auch der Marathon am Sonntag wird. Ich weiß 100%ig, dass ich die erste Rennhälfte konservativ anlaufen werde.“ Wichtiger Nachsatz: „Ich hoffe, dass es alle anderen anders machen werden.“
Damit verbunden ist die Kalkulation, dass einige Kontrahentinnen entweder die Anforderungen unterschätzen oder in der Wettkampfeuphorie des Olympischen Flairs über ihre Verhältnisse leben könnten – und folglich im Mittelteil oder spätestens im zehn Kilometer langen Flachstück der Schlussphase dafür büßen und dann von einem schlechten Tag sprechen werden. Der Boston Marathon hat bewiesen, dass das Bergabstück und die Flachpassage am Ende oft entscheidender waren als die Anstiege, darunter jener auf den berühmten Heartbreak Hill. „Diese vielen Höhenmeter in der Vorbereitung waren eine ganz neue Erfahrung für mich“, fasst Mayer zusammen und meint optimistisch: „Zum Schluss hat es mitunter sogar Spaß gemacht zu sehen, dass ich dieselbe Strecke wesentlich schneller gelaufen bin als bei Einheiten davor.“ Ein klassischer Boost fürs Selbstvertrauen.
Mayer schätzt die etwa fünf Kilometer lange Bergauf-Passage kurz vor dem Halbmarathon als die größere Herausforderung als die steilen Rampen nach rund zwei Drittel, die eine Maximalsteigung von 13% bringen – die Tour de France lässt grüßen. „So eine lange Steigung muss man erst einmal schnell laufen können. Wenn man sich da in der Tempowahl vertut, wird so eine Passage ewig lang“, sagt sie. Etwas herausfordernder als die Anstiege, die logischerweise fordernd für den Organismus sind, sieht die ÖLV-Rekordhalterin die Bergabpassagen. „Mein Trainer hat einen großen Fokus in der Vorbereitung darauf gelegt, denn Bergablaufen ist schon dramatisch anders. Ich bin im Training immer Vollgas runtergelaufen und hab dabei erst lernen müssen, mir das auch zuzutrauen“, erzählt die Niederösterreicherin.
Auch in diesem Punkt hofft sie, dass viele andere das im Training nicht so konsequent und akribisch praktiziert haben. „Früher hatte ich immer extremen Muskelkater, wenn es nur ein bisschen bergab ging. Mittlerweile nicht mehr“, so Mayer. Gerade die vordere Oberschenkelmuskulatur müsse aufgrund der Bremswirkung mehr Leistung erbringen als beim Laufen im Flachen, außerdem ist die Laufhaltung etwas nach vorne geneigt. Wie auch bergan.
Das zweite große Kapitel der Vorbereitung war die Adaption an die klimatischen Bedingungen. Es wird Julia Mayers zweiter Marathon im Sommer. Vor einem Jahr in Budapest war es heiß. Klar ist jetzt schon: Am Sonntag scheint über Paris die Sonne ungehindert. Und es wird heiß, mit weit über 30°C am Nachmittag. Die einzig positive Nachricht im Vergleich zum Hitzemarathon von Sapporo vor drei Jahren: Die Luftfeuchtigkeit wird niedriger sein. Auch beim Start in der Früh wird das Thermometer jenseits der 20°C sein, mit rasch steigenden Temperaturen im Rennverlauf.
Training bei Hitze gab es für Julia Mayer an der kroatischen Adriaküste. Sie sieht sie für sich nicht das überlagernde Kriterium für Sonntag: „Auch wenn ich bei Trainingseinheiten in Wien letztens schon gemerkt habe, dass bei ein paar Grad weniger alles gleich leichter von der Hand geht.“ Vor dem Rennen will sie ihre Körpertemperatur mit Kühlwesten und einem kühlenden Stirnband unten halten, während des Rennens reicht ihr Wasser zum Drüberschütten und für die Verpflegung zur Kühlung.
95 Läuferinnen werden am Sonntag nach dem Startschuss auf diese einzigartigen 42,195 Marathon-Kilometer gehen, 15 mehr als ursprünglich gedacht. Zu den 88 fix qualifizierten Athletinnen, alle durch Erbringung des Direktlimits, kommen noch acht Läuferinnen, die über den „Universality Place“ ins Feld gerückt sind. Das sind übrigens nicht nur Exotinnen, sondern auch die ehemalige WM-Medaillengewinnerin Helalia Johannes (2019), im Alter von 43 Jahren aber keine Aspirantin für die Top-Drei mehr.
Mayer ist als Nummer 87 gelistet, gemäß der Qualität der Limits. Aus dieser Position heraus macht sie realitätsbewusst keine großen Ankündigungen ob der Platzierung: „Mein Ziel ist es, gemäß der Entry List Positionen gut zu machen. Vielleicht helfen mir Zufall und Glück, aber man muss schon anerkennen, wie unfassbar hoch das Niveau im Feld ist.“ Das wird ihr zwangsläufig gelingen, weil die ein oder andere Aufgabe bei solchen Wettkämpfen an der Tagesordnung stehen und viele sich ob der Unsicherheiten verspekulieren könnten. Selbst wenn Mayers Taktik passt, werden vielleicht eher die Leistungen der anderen entscheiden, wie weit es für sie nach vorne geht, als sie selbst. Nämlich, wenn sie es anders probieren als die Österreicherin.
Der Leichtathletik-Weltverband bietet all seinen nationalen Mitgliedern, die keine qualifizierte Athletin oder keinen qualifizierten Athleten haben, einen Startplatz zur freien Besetzung unabhängig der Qualifikationskriterien. Bei den Olympischen Spielen von Paris profitieren insgesamt 93 Nationen davon. World Athletics beschränkte sein Angebot auf drei Distanzen: 100m, 800m und Marathon. Daher sind sechs Teilnehmerinnen am Marathon der Frauen und zehn Teilnehmer am Marathon der Männer über diesen, durchaus diskussionswürdigen Weg, der zu Lasten der in der Weltrangliste platzierten Athlet*innen geht, ins Feld gerutscht.
Mit der Vorbereitung ist die Österreicherin zufrieden, das Gefühl sei großartig, Form und Fitness plangemäß auf jenem Level, auf dem sie sein hätten sollen. In der finalen Trainingsphase lag der Fokus auf Geschwindigkeit in den Einheiten. Das Resümee: „Ich habe jetzt schon mehr als 1.100 Laufkilometer mehr in den Beinen als zum Vergleichszeitpunkt 2023.“ Alles auf gutem, konstanten Niveau.
Dennoch lässt sie wenig Druck von außen zu und verweist auf ihren Karriereplan: „Mir ist bewusst, dass es am Sonntag hart wird. Nicht nur aufgrund der Streckencharakteristik, sondern aufgrund des Niveaus in der Szene. Man darf nicht vergessen, ich betreibe den Laufsport erst seit vier Jahren professionell. Wenn vier weitere Jahre Entwicklung dazukommen, kann ich in Los Angeles 2028 Früchte mit höherer Qualität ernten.“
Hoffnungen legt sie in den Rennverlauf, den sie konservativ wählen wird. „Ich tippe darauf, dass alle, die eine gute Platzierung im Auge haben, schnell weglaufen werden. Auch die besten Europäerinnen“, meint sie. Die schwierige Strecke sei schließlich eine Chance und biete Athletinnen, die einen guten Tag erwischen, Möglichkeiten auf eine Top-Ten-Platzierung, die in einem vergleichbaren Feld und unter gewöhnlichen Marathon-Verhältnissen weiter hinten landen würden. Das lade zu Risiko ein. „Ich hoffe darauf, dass für viele dieser Marathon dann in einem schlechten Tag endet und ich in der Schlussphase ein paar Plätze nach vorne rutsche.“ Oder anders formuliert: Julia Mayer hofft, dass alle anderen es anders machen als sie.
Autor: Thomas Kofler
Bild: © SIP / Johannes Langer