Bei britischen Laufveranstaltungen gehört das Auswahlfeld „nicht binär“ (oder andere Bezeichnungen) im Anmeldeprozess und in Ranglisten bereits zum gewohnten Bild. Auch österreichische Laufevents haben erste, wenngleich eher unbedeutend wenige Erfahrungen damit gemacht.
Angeführt vom New York City Marathon (2021) haben sich die wichtigsten sechs Marathonläufe der Welt, die sich in ihrem Zusammenschluss World Marathon Majors nennen, dieses Thema prominent auf die Fahnen geheftet. Alle sechs bieten die Auswahlmöglichkeit längst an, womit die bedeutendsten Marathonläufe der Welt (im Übrigen allesamt in westlichen Ländern angesiedelt, Anm. d. Autors) mit dieser wichtigen und gegenwärtigen Gesellschaftsentwicklung Schritt halten. Ein aussagekräftiges Signal, versehen mit einer klaren und einfachen Botschaft: Die Anmeldung zu einem Laufevent sei eine mentale Hürde und ein Hindernis, wenn man ein Geschlecht auswählen müsste, zu dem man sich nicht zugehörig fühle, so Kerin Hempel, CEO der New York Road Runners, die etliche Laufveranstaltungen und -initiativen in New York durchführen. Daher habe man sich entschieden, mit dieser Maßnahme die „Integration unterrepräsentierter Gruppen, wie der LGTBI*-Community, zu verbessern“ (vgl. „Marca“). Die Maßnahme der dritten Kategorie ist unstrittig inklusionsfördernd. 2021 hatten 16 Laufbegeisterte beim New York City Marathon in der Kategorie „non binär“ teilgenommen, Zitate in Schilderungen davon verwendeten das Wort „befreiend“.
Die Laufwelt repräsentiert die Welt
Die Symbolkraft ist unbestritten, wenn auch in erster Linie für eine kleine Teilmenge des Teilnehmerfeldes: Ein aktuelles Beispiel: 66 der Zielankünfte beim Chicago Marathon fielen in die Kategorien non-binär oder nicht genauer spezifiziert. Das sind 0,17% der knapp 40.000 Aktiven, die den Chicago Marathon 2022 beendet haben. Unter Annahme, nicht alle non binären Laufbegeisterten hätten bei ihrer Anmeldung die Kategorie gewählt, nähert sich das Studienergebnis der University of California aus dem Jahr 2021 an, das festhielt, dass 0,36% der US-amerikanischen Bevölkerung sich weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zugehörig fühlt bzw. sich nicht mit einem der klassischen Geschlechter identifiziert. In absoluten Zahlen sind das 1,2 Millionen Menschen, vor allem junge und in Städte lebende.
Wissenschaftliche Prinzipien der Gleichstellung umgangen
So weit, so gut. Doch der New York City Marathon ging in diesem Jahr noch einen bedeutenden Schritt weiter und polarisierte. Denn er versah die eigene Kategorie für nicht-binäre Läuferinnen und Läufer mit einem Preisgeld. Erstens gibt es diese Möglichkeit in den Regelungen der internationalen Leichtathletik nicht, wodurch alle Eliteläuferinnen und Eliteläufer sowie professionell Aktiven im Elitefeld traditionell zwischen männlich und weiblich auswählen mussten. Dafür gibt es ziemlich strikte Kriterien, die laut Ambition von World Athletics so nahe wie möglich an sportliche und wirtschaftliche Fairness heranzukommen zu versuchen (die Regelung auf den Mittelstrecken ist strenger als im Marathon). World Athletics argumentiert offensiv, dass auf professioneller Ebene die Integrität des Frauensports geschützt gehört. Denn die Überlegenheit in der sportlichen Leistungsfähigkeit des biologischen Mannes gegenüber der biologischen Frau ist bei vergleichbaren Voraussetzungen wissenschaftlich wasserdicht, die Entwicklungen in der Pubertät sind verantwortlich dafür. Die nach biologischen Kriterien definierte Frau ist hierbei die Prämisse, nicht nach den Kriterien der Geschlechtsidentität. Dass diese Relevanz im Freizeitsport nicht gegeben ist, ist argumentierbar.
Zweitens ergab sich durch diese Entscheidung, die vermeintlich gleichstellend sein sollte, freilich ein empfindliches Ungleichgewicht, das von einigen Kommentatoren auch deutlich kritisiert wurde. Der Co-Gründer der US-amerikanischen Laufplattform „Let’s Run.com“, Robert Johnson rechnete vor, dass das Preisgeld von 15.000 US-Dollar für die nicht binäre Kategorie (5.000 US-Dollar für den Sieger) bei im Vorfeld geschätzt 60 Anmeldungen für diese ein Preisgeld von 250 US-Dollar pro Anmeldung bedeutete. Die 650.000 US-Dollar Preisgeld für die männliche und weibliche Kategorie aber nur 13 US-Dollar pro Anmeldung. Bei gleicher Auszahlung pro Anmeldung hätte der New York City Marathon ein Budget von 12,5 Millionen US-Dollar alleine für das Preisgeld für Männer und Frauen gebraucht. Der Vergleich mit der einzelnen Anmeldung als Rechenfaktor mag fragwürdig sein und innerhalb einer gezielten Initiative des Veranstalters wenig relevant. Doch es kommt sogar noch der oben erwähnte Fakt dazu, dass für den durchschnittlichen Freizeitläufer und die durchschnittliche Freizeitläuferin selbst im eindrucksvollen individuellen Leistungsspektrum ein Preisgeld beim New York City Marathon per se unerreichbar ist, weil er und sie sich mit Profis darum streben müssen.
Und drittens gibt es im Laufsport theoretisch klare biologische Kriterien, wer in die Klasse der Männer (korrekterweise müsste man sie als offene Klasse bezeichnen) und in die Klasse der Frauen einzuordnen ist. Dass das in einem so großen Starterfeld im Einzelfall schwierig überprüfbar bleibt, ist trotz Zig-Tausender Fotos und Videos klar, in den Preisgeldregionen gibt es aber keinen Raum für Fehler. Wer Startrecht in der nicht binären Kategorie hat, dafür gibt es keine objektiven Standards, erst recht keine sportwissenschaftlichen. So lange kein Preisgeld im Spiel ist, ist das kein Problem.
Jake Caswell – Sieger des New York City Marathon
Eines der potenziellen Ziele haben die New York Road Runners mit ihrem Vorstoß allerdings definitiv erreicht: Aufmerksamkeit für eine inklusive Initiative, die der natürlichen Vielfalt des Laufsports Ausdruck vermittelt. Das volle Preisgeld haben die New York Road Runners im übrigen nicht ausgezahlt, dafür war laut eigener Definition eine Leistung von unter 3:10 Stunden (und kein anderes zusätzliches Preisgeld) notwendig, das haben „nur“ zwei geschafft. Jake Caswell kreuzte die Ziellinie im Central Park nach 2:45:12 Stunden (Gesamtrang 172) und nahm den Scheck für den Siegreichen in der nicht binären Kategorie entgegen, berichtete die US-Laufplattform „Runner’s World“ in einem eigenen Rennbericht für diese Kategorie. 45 der 59 Gestarteten sind laut der spanischen Sportzeitung „Marca“ in diese Wertung gefallen.
Let’s Run befürchtet Diskriminierung von Frauen
Robert Johnson hat unter seinem Forumbeitrag wenig zustimmende Worte bekommen, eher im Gegenteil. Vielleicht war das ein Anreiz für den langjährigen Kenner der Laufszene und Lauftrainer, gemeinsam mit der ehemaligen britischen Topläuferin Mara Yamauchi, seit Jahren eine Person, die sich zu wichtigen Themen regelmäßig öffentlich äußert, ein ausführliches Essay zu veröffentlichen (LetsRun.com). Ihr Argument: Mit der Einführung der Preisgelder für die nicht binäre Kategorie (die im Fallbeispiel New York faktisch wie auch generell biologisch-theoretisch an nicht binäre Läufer mit biologisch und genetisch tendenziell oder gesamtheitlich männlichen Voraussetzungen gehen) habe der New York City Marathon seine 1984 eingeführte Geschlechtergleichstellung in der Preisgeldauszahlung verraten und das weibliche Geschlecht diskriminierend benachteiligt.
Biologisches Geschlecht gegen Geschlechteridentität
Die entscheidende Frage, die dieses Essay aufwirft (und mit nein beantwortet), ist jene, ob Gechlechtsidentität im sportlichen Wettkampf eine relevante Komponente für die Natur des Wettkampfs sei oder nicht (bzw. oder wie bisher das biologische Geschlecht, Anm. d. Autors). „Die Geschlechtsidentität einer Person verändert ihr biologisches Geschlecht nicht. Dieses, und nicht die Geschlechtsidentität, bestimmt, dass Männer im Sport bessere Leistungen abliefern. Daher sollte Geschlechtsidentität nichts mit kompetitivem Sport zu tun haben“, schreiben die beiden in dieser Kolumne.
Im Sinne der Inklusion sei die Einführung der nicht binären Kategorie nachvollziehbar, sie solle aber die gegen die Essenz des Sports gehende Diskriminierung von Frauen verhindern. „Fairer Wettbewerb ist die relevante Kategorie im Sport“, so das Schlusswort. In einem weiter gedachten Schritt, so die beiden Autoren, würde bei Angleichung der Auszahlung in allen drei Kategorien voraussichtlich zwei Drittel der Preisgelder an Männer oder vorwiegend mit männlichen Voraussetzungen Laufenden (laut biologischer Definition!) ausgezahlt werden und nicht mehr wie bisher 50-50 zwischen den beiden klassischen Geschlechtern.
RunAustria-Lesetipp: Die Herbstausgabe des Laufmagazins RunUp widmet sich der breiten Palette der Vielfalt im Laufsport.
RunUp
Essay auf Let’sRun.com vom 8. November
Bericht in der „Marca“ vom 8. November
Bericht auf Runner’sWorld.com vom 7. November
Bericht Capital FM vom 3. November
Studienergebnisse der University of Californa vom 22. Juni 2021