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Der Streckenrekord des Boston Marathon war jahrelang ein Stiefkind. Er wurde gehalten von Bizunesh Deba, in einer symbolträchtigen Zahl von 2:19:59 Stunden. Der Haken: Die Äthiopierin hatte die Ziellinie des Boston Marathon 2014 nicht als Erste überquert, die ursprüngliche Siegerin Rita Jeptoo wurde als Hauptprotagonistin einer der größten Dopingskandale im Marathon der letzten Jahre nachträglich disqualifiziert. Zehn Jahre später hat Deba das Preisgeld für Platz eins vom Veranstalter des Boston Marathon erhalten, der damit ein kräftiges Signal der Gerechtigkeit abgegeben hat. Ihren Streckenrekord ist sie nach dem denkwürdigen 129. Boston Marathon allerdings los. In den Hauptrollen liefen gestern die beiden kenianischen Topstars Sharon Lokedi und Hellen Obiri. Erstere hatte sich noch wenige Tage zuvor öffentlich darüber beklagt, bisher gegen ihre Landsfrau immer den Kürzeren gezogen zu haben. Das Blatt wendete sich kurz nach der Zwischenzeit bei Kilometer 40. Zu ihren Gunsten.
2:17:22 Stunden – bei einem Marathon, bei dem sub-2:20-Zeiten aufgrund der Strecken- und Renncharakteristik ohne Tempomacherinnen bis dato praktisch ein Tabu waren, ist das eine atemberaubende Zeit. Sharon Lokedi hatte im Vorfeld gezielt ein Augenmerk darauf geworfen, wie sie auf den letzten Kilometer besser gegen Hellen Obiri performen könnte, die aufgrund ihrer Bahn-Vergangenheit mit Weltmeistertiteln und Olympia-Medaillen ausgeprägte Fähigkeiten für diese Wettkampfphase aufweist. Dieses Mal aber brillierte Lokedi mit einem fantastischen Teilsplit von Kilometer 40 bis ins Ziel, den sie sogar schneller absolvierte als der zu diesem Zeitpunkt schon leicht schwächelnde Männer-Sieger John Korir. Ein Preisgeld in Höhe von 200.000 Euro (das entspricht rund 174.000 Euro), drei Viertel davon für den Sieg, ein Viertel für den Streckenrekord, ist der verdiente Lohn für eine großartige Leistung.
Obiri und Lokedi haben beide noch nie einen Marathon auf einer schnellen, flachen Strecke mit Tempomacherinnen bestritten, sind aber Spezialistinnen für die US-Klassiker auf selektivem Terrain und mit Wettkampf-Charakter Frau gegen Frau. Der Boston Marathon 2025 war der achte Wettkampf, in dem Lokedi und Obiri aufeinandertrafen. Einmal hatte Lokedi die Nase vorne, als sie bei Obiris eher missglücktem Marathon-Debüt in New York 2022 den eigenen großen Durchbruch schaffte und als Siegerin den Central Park erreichte. Ihr bis gestern größter Erfolg.
Ansonsten hatte die Präsenz Lokedis im Feld Obiri immer Glück gebracht. Die 35-Jährige gewann 2021 die kenianischen Olympia-Trials, 2021 den Great North Run, 2022 den Great Manchester Run, 2023 den New York City Marathon und 2024 den Boston Marathon. Von Mal zu Mal pirschte sich Lokedi näher an Obiri heran, 2023 in New York war sie Dritte, im Vorjahr in Boston knapp geschlagene Zweite. Bei den Spielen von Paris holte sich Hellen Obiri Bronze, Sharon Lokedi musste sich knapp dahinter mit „Blech“ zufriedengeben.
Dieses Mal schlug das Pendel in ihre Richtung aus: 19 Sekunden – und damit den gleichen Abstand wie John Korir bei den Männern – legte sie mit ihrem fulminanten Finale zwischen sich und der zweitplatzierten Obiri. Lokedi blieb viereinhalb Minuten unter ihrer bisherigen persönlichen Bestleistung, aufgestellt im Vorjahr. „Ich bin überglücklich, wie ich gelaufen bin. Ich war die letzte Zeit immer knapp hinter ihr, dieses Mal wollte ich die Reihenfolge unbedingt ändern. Es war ein großartiges Duell“, schwärmte die Siegerin. Obiris bisher schnellster Marathon war ebenfalls einer in Boston, bei ihrem Sieg 2023. Heuer war sie fast vier Minuten schneller als damals und dennoch „nur“ Zweite.
Nach einigen gemächlichen Schritten zu Beginn ging das Eliterennen der Frauen, welches zehn Minuten nach jenem der Männer startete, in ein hohes Tempo über. Die anfänglich 13-köpfige Spitzengruppe zerfiel daher noch vor der Halbmarathon-Zwischenzeit in Stücke. Mit einer Zwischenzeit von 1:08:46 Stunden ging eine fünfköpfige Spitzengruppe in die zweite Marathon-Hälfte – die fünf großen Namen des Rennens: Hellen Obiri, Sharon Lokedi, Amane Beriso, Yalemzerf Yehualaw und Irine Cheptai. Knapp eine Minute dahinter folgte die Verfolgergruppe.
„Als ich die Halbmarathon-Durchgangszeit sah, dachte ich eigentlich: Das ist zu schnell – jetzt kommen ja erst die Hügel!“, rekapitulierte Lokedi später (vgl. CNN). Zu schnell wurde es für Cheptai, die in den hügeligen Passagen das Tempo nicht mehr halten konnte. Nach der Bergabpassage hinter dem Heartbreak Hill musste auch Beriso, die amtierende Weltmeisterin, abreißen lassen. Die Entscheidung um den Sieg fiel auf dem viertletzten Kilometer. Lokedi, die 2015 zum Studium in die USA kam, seither dort lebt und seit Jahren von Stephen Haas trainiert wird, beschleunigte und sprengte die dreiköpfige Spitzengruppe. Obiri konnte zwar noch folgen, doch Yehualaw verlor in diesem Moment die Chance auf den Sieg. Noch vor ihrem berüchtigten Endspurt verlor auch Obiri den direkten Kontakt zur Siegerin.
Yehualaw ging im hochstilisierten Duell zwischen den beiden Kenianerinnen fast etwas unter, doch mit der Leistung von 2:18:06 Stunden zeigte sie als Boston-Debütantin ebenfalls einen hervorragenden Auftritt. Es ist die viertschnellste Karriere-Marathonzeit der Siegerin des Amsterdam Marathon 2024. Sie war fast vier Minuten vor ihrer Landsfrau Amane Beriso im Ziel, die Cheptai noch vorbei lassen musste.
Der Wettkampf produzierte somit drei der schnellsten Zeiten in reinen Frauenrennen überhaupt. Interessant, weil unüblich, ist auch die Schuhwertung: Der Sieg ging an Under Armour vor On und Nike.
Hinter den Weltklasseläuferinnen gab es die ein oder andere Überraschung. Die Qualität der sechstplatzierten Britin Calli Hauger-Thackery und ihrer Zeit von 2:22:38 Stunden ist schon gar keine mehr, es war ihr dritter Marathon auf diesem Leistungsniveau, eine Minute über ihrer Bestleistung beim Berlin Marathon im September. Dass die erste Amerikanerin im Ziel Jess McClain in einer Zeit von 2:22:43 Stunden als Siebte war, dagegen trotz ihres vierten Platzes bei den Olympia-Trials im Vorjahr schon. Lange Zeit war Annie Friesbie die führende Amerikanerin im Rennen, sie finishte, nachdem McClain sie in den finalen Passagen überholte, in 2:23:21 Stunden auf dem immer noch ehrenwerten achten Platz. Beide blieben deutlich unter ihren bisherigen Marathon-Bestleistungen. Dagegen konnte Emma Bates die hohen in sie gesetzten Erwartungen mit einer Zeit von 2:25:10 Stunden und Platz 13 nicht erfüllen.
Die Routiniers spielten dagegen nicht die erste Geige. Die ehemalige Boston-Siegerin Desiree Linden hatte im Vorfeld bekannt gegeben, ihren letzten Marathon mit leistungssportlichen Anspruch zu bestreiten und erreichte das Ziel nach 2:26:19 Stunden auf Platz 17 – keine schlechte Leistung im Alter von 41 Jahren, laut „Let’sRun.com“ ihre schnellste in Boston seit acht Jahren. Die 42-jährige Sarah Hall, die im Vorfeld noch von ihrer Vorbereitung schwärmte, folgte 13 Sekunden später, die 40-jährige Keira D’Amato, die erstmals seit dem Schlechtwetter-Rennen 2018 wieder in Boston lief, wurde 35. mit einer Zeit von 2:35:57 Stunden.
Sieben Wochen nach ihrer Teilnahme am Tokio Marathon (siehe RunUp.eu-Bericht) beendete die ehemalige Weltrekordhalterin Paula Radcliffe, deren von einer seltenen Krebserkrankung genesene Tochter Isla am Sonntag den London Marathon laufen wird, auch den sechsten World Marathon Major – um die „Six Star Medal“ zu vollenden. Die 51-Jährige erreichte das Ziel nach 2:53:46 Stunden und war damit knapp vier Minuten schneller als in der japanischen Metropole. Als Schnellste ihrer Altersklasse finishte die britische Lauflegende knapp außerhalb der Top-100 der Frauen-Wertung. Es waren ihre ersten beiden Marathons nach zehn Jahren Pause.
Die letztjährige Staatsmeisterin Carola Bendl-Tschiedel (LG Wien) finishte in einer Zeit von 2:57:03 Stunden. Auch sie war vor sieben Wochen den Tokio Marathon gelaufen und blieb damals wie in Boston unter drei Stunden.
80 wegen Dopingfälle von Kontrahent*innen geschädigte Athlet*innen hat der Boston Marathon seit 2003 ermittelt und ihnen aus Eigeninitiative das verpasste Preisgeld ausbezahlt, noch bevor die Disqualifizierten dieses vollständig zurückerstattet haben. Seit Jänner wurden fast 300.000 US-Dollar überwiesen.
Einen Gutteil davon erhielt Bizunesh Deba, die 2014 hinter der später des Dopings überführten Rita Jeptoo als Zweite ins Ziel lief. Diana Kipyokei, vermeintliche Siegerin 2021, ist die jüngste Boston-Siegerin, die nachträglich disqualifiziert wurde. (vgl. L’Équipe)
Autor: Thomas Kofler
Bild: © SIP / Johannes Langer – Sharon Lokedi bei einem Medientermin von Under Armour 2024 in Barcelona.