Hätte nicht der große Eliud Kipchoge seine unheimliche Dominanz auch über den Olympischen Marathon von Sapporo ausgebreitet, es wäre vielleicht ihre Geschichte gewesen. Sie bekam auch so Aufmerksamkeit. Abdi Nageeye schein auf den letzten Metern Richtung der Ziellinie der stärkste aus einer Dreiergruppe, der Silber und Bronze auf der einen sowie die „Blecherne“ auf der anderen winkten. Der Holländer drehte sich um, feuerte seinen Trainingspartner Bashir Abdi an und animierte ihn, im Zweikampf mit Lawrence Cherono alles aus sich herauszuholen. Es gelang, der Belgier gewann Bronze und der europäische Laufsport feierte dank zweier gebürtiger Somali, die beide seit über zwei Jahrzehnten in Mitteleuropa leben, einen historischen Marathon-Tag: Abdi Nageeye in Holland, Bashir Abdi in Belgien. Die beiden teilen nicht nur eine Lebensgeschichte und viel Trainingszeit, sie sind bestens befreundet.
Neue Stärke
Seit ihrem Coup bei den Olympischen Spielen ist einiges passiert: Bashir Abdi gewann im Oktober 2021 den prestigeträchtigen Rotterdam Marathon und verbesserte in einer Zeit von 2:03:36 Stunden den Europarekord. Der 33-Jährige ist damit angekommen in der Weltspitze. Einen ähnlichen Schritt machte sein gleichaltriger Weggefährte ein halbes Jahr später, ebenfalls in Rotterdam. Während Bashir Abdi in nicht optimaler körperlicher Verfassung den Titel nicht verteidigen konnte, feierte Abdi Nageeye einen viel umjubelten Heimsieg und verbesserte seinen eigenen holländischen Rekord auf eine Zeit von 2:04:56 Stunden. Wenn das Duo am Sonntag in den frühen Morgenstunden Ortszeit auf die Marathonstrecke von Eugene gehen, starten sie mit aufgefrischtem Selbstvertrauen ins Rennen. Und dieses Selbstverständnis wird lauten, um die Medaillen mitkämpfen zu können. Eine europäische WM-Medaille im Marathon der Männer ist zur Seltenheit verkommen, die letzte gewann Viktor Röthlin aus der Schweiz vor 15 Jahren.
„Eine einzigartige Möglichkeit“
Auf die WM zu verzichten um ein lukratives Startgeld bei einem Herbstmarathon zu bekommen, war für Nageeye keine Option, wie er in einem Videointerview mit holländischen Journalisten betonte: „Ich bin jetzt in der Lage eine WM-Medaille zu holen. Und wenn ich das schaffe, kann ich meinen Enkeln davon erzählen. Für mich ist das eine einzigartige Möglichkeit.“ Er mag taktisch geführte Rennen viel lieber als von Tempomachern bestimmte, eine Zusammenarbeit mit seinem Trainingspartner Bashir Abdi ist in jedem Rennszenario garantiert. „Sie werden Angst vor uns haben“, formulierte er offensiv Richtung ostafrikanischer Konkurrenz. Besonders vor der Stärke auf den letzten Kilometern (vgl. De Volkskrant, 14. Juli). Die Vorbereitung in Äthiopien unter der Fernregie seines Trainers Gary Lough verlief offenbar hervorragend.
Marathonlauf der Männer: Sonntag, 17. Juli um 6:15 Uhr Ortszeit (15:15 Uhr MEZ)
Titelverteidiger: Lelisa Desisa (Äthiopien)
Olympiasieger von Tokio: Eliud Kipchoge (Kenia)
Rekord-Weltmeister: Abel Anton (Spanien), Jaouad Gharib (Marokko) und Abel Kirui (Kenia) mit je zwei WM-Titel
Erfolgreichste Nation: Kenia mit vier WM-Titel
WM-Rekord: Abel Kirui (Kenia) in 2:06:54 Stunden (Berlin 2009)
Favoriten: viele
Teilnehmerinnen aus der DACH-Region: Tom Gröschel (Deutschland)
Das Starterfeld beim ersten WM-Marathon auf US-Boden ist mehr als weltmeisterschaftswürdig. Zwölf Läufer mit Bestleistungen unter 2:05 Stunden sind ein bestechender Wert, fünf aus den Top-Ten der Weltrangliste sind dabei (ein Sechster ist Äthiopiens Reserveläufer, Anm.). Die beiden Teams aus Äthiopien und Kenia sind gespickt mit Könnern. Äthiopiens Aufgebot wird naturgemäß von Titelverteidiger Lelisa Desisa angeführt, doch der 32-jährige ist krasser Außenseiter. Seit seinem nächtlichen Triumph im Katar hat er keinen einzigen Marathon beendet. So sind Tamirat Tola und Mosinet Geremew die sportlichen Leader des äthiopischen Teams und schultern damit auch Äthiopiens Hoffnungen auf den dritten WM-Titel im Marathon, den bisher einzigen in Nordamerika hat Gezahegne Abera 2001 in Edmonton gewonnen. Tola ist als Dritter des Tokio Marathon in einer Zeit von 2:04:14 Stunden der Dritte der Weltjahresbestenliste, verweist als Referenz jedoch lieber auf seinen Triumph beim Amsterdam Marathon 2021 in einer Zeit von 2:03:39 Stunden. Geremew ist der WM-Silbermedaillengewinner von Doha und Sieger des Seoul Marathon 2022. Nur Superstar Eliud Kipchoge liegt in der Weltrangliste vor den beiden, der Weltranglisten-Fünfte Seifu Tura ergänzt das äthiopische Team.
Cheronos offene Rechnung
Kenia antwortet mit einem vielseitigen und spannenden Team. Lawrence Cherono, der bereits World Marathon Majors in Boston und Chicago gewinnen konnte, dazu die schnellen Marathons in Valencia und Amsterdam, hat eine ausgeprägte Stärke auf dem letzten Kilometer, was in Meisterschaftsrennen oft ein wichtiger Faktor ist. „Die WM ist der beste Ort für uns Kenianer, unser einzigartiges Talent der gesamten Welt zu präsentieren. Für mich ist das eine Riesenehre, an der Startlinie zu stehen“, philosophierte Cherono in der kenianischen Tageszeitung „The Star“. Als Olympia-Vierter hat der 33-jährige Weltranglisten-Vierte besonders gegen „Abdi und Abdi“ eine schmerzhafte Rechnung offen, als ihm für einmal den Endspurt nicht gelang. Der Routinier trainiert im Gegensatz zu etlichen Konkurrenten in diesem Wettkampf vom NN Running Team im Trainingscamp Rosa Associati und erzählte in kenianischen Medien von einer guten Vorbereitung.
ANMERKUNG am Samstag, 16. Juli um 21:15 Uhr: Lawrence Cherono wurde kurzfristig aufgrund eines positiven Dopingtests provisorisch suspendiert und kann nicht an den Start gehen – siehe RunAustria-Bericht.
Der zweite spannende Kenianer im Feld ist Geoffrey Kamworor, der in seinen besten Zeiten so ziemlich alles konnte und auch schon zweimal den New York City Marathon gewonnen hat. Seit seinem schweren Trainingsunfall, als ihn ein Motorradfahrer umfuhr, hat er kein Topresultat mehr erzielt und bei den Marathons in Valencia und Boston eher durchschnittliche Erfahrungen gemacht. Eine Überraschung ist der dritte nominierte Kenianer, Barnabas Kiptum, der nur auf Rang 45 der Weltrangliste zu finden ist. „Ein Traum wird wahr“, sagte der 35-Jährige zu seinem Debüt im Nationalteam. Mit den Landesrekordhaltern aus Eritrea, Hiskel Tewelde, und Tansania, Gabriel Geay, melden zwei weitere ostafrikanische Verbände Medaillenchancen an, das Team aus Uganda gehört dieses Mal nicht zum Kreis der Medaillenanwärter.
Olympische Spiele 2020
- Gold: Eliud Kipchoge (KEN)
- Silber: Abdi Nageeye (NED)
- Bronze: Bashir Abdi (BEL)
Weltmeisterschaften 2019
- Gold: Lelisa Desisa (ETH)
- Silber: Mosinet Geremew (ETH)
- Bronze: Amos Kipruto (KEN)
Der Traum vom Heimerfolg
Eine kitschige Geschichte wäre ein erfolgreiches Abschneiden von Galen Rupp, der 2016 in Rio die Bronzemedaille im Marathon gewann. Für den 36-Jährigen sind diese Weltmeisterschaften ein echtes Heimspiel und wohl ein emotionaler Karrierehöhepunkt. „Für mich gibt es keinen besseren Ort auf der Welt für einen Wettkampf“, sagte er in einem Interview mit der US-amerikanischen Laufplattform „Runner’s World“. Rupp ist in Portland, der Hauptstadt des US-Bundesstaats Oregon, geboren und lebt Zeit seines Lebens zumindest in der Nähe der WM-Stadt. 2005 begann er sein Studium an der University of Oregon und entwickelte sich unter der Leitung seines Trainers und seiner Vertrauensperson Alberto Salazar zum Top-Talent des amerikanischen Langstreckenlaufs. 2012 stürmte der US-Boy im Schlepptau des local heros Mo Farah zur Olympischen Silbermedaille über 10.000m und damit zum exemplarischsten Erfolg des Nike Oregon Projects.
Im zitierten Interview zeigte sich der Lokalmatador optimistisch, obwohl er seit dem achten Platz bei den Olympischen Spielen und den achtbaren zweiten Platz beim Chicago Marathon im Oktober keinen guten Wettkampf mehr bestritt. Immer wieder verursachten ein Bandscheibenvorfall und ein eingeklemmter Nerv Schmerzen im Rücken, die mit einer gezielten Therapie zur Stärkung der Muskulatur ausgemerzt wurden. Eine milde COVID-19-Infektion bremste ihn im Juni für eine Trainingswoche aus, insgesamt habe er während einer langen Periode hart und viel unter der Anleitung seines in Arizona lebenden Trainers Mark Smith trainiert. Das Ziel müsse lauten, um die Goldmedaille mitzulaufen.
Der zweitstärkste US-Amerikaner im Feld ist der 39-jährige Elkanah Kibet, der sich mit Rang vier beim New York City Marathon 2021 für seine dritte WM-Teilnahme empfohlen hat. „Dieses Rennen zählt. Wir laufen in Amerika und alle Leute werden uns zusehen. Ich werde bereit sein“, schilderte er gegenüber „Runner’s World“ seine Vorfreude.
Der Shootingstar aus Brasilien
Auch Japan hat seinen Besten geschickt, Kengo Suzuki ist der Landesrekordhalter und potenzieller Kandidat auf die erste japanische Marathon-Medaille bei den Männern seit 2005, wenngleich die Wahrscheinlichkeit nicht sehr hoch erscheint. Noch historischer wäre die erste Marathon-Medaille für einen südamerikanischen Verband seit 1995, die durch Daniel do Nascimento möglich erscheint. Der 23-Jährige schockte die Marathonwelt beim Seoul Marathon mit einem neuen südamerikanischen Kontinentalrekord von 2:04:51 Stunden und hat damit eine bessere Bestleistung als etwa Nageeye.
Von den vorgesehenen 100 Startplätzen für die WM sind nur 70 gemeldete Läufer übrig geblieben. Etliche europäische Verbände, am Ende doch mehr als erwartet, entschieden sich im engen Terminplan dieses Sommers, ihre stärksten Läuferinnen und Läufer zu den Europameisterschaften im August nach München zu schicken, darunter auch Deutschland und die Schweiz. Aus der österreichischen Marathonspitze konnte sich kein Läufer weder für die WM noch für die EM qualifizieren. Daher ist Tom Gröschel der einzige deutschsprachige WM-Teilnehmer im Marathon. Vor der Anreise ins deutsche Trainingscamp in Kalifornien bereitete sich der 30-Jährige in St. Moritz auf seinen WM-Auftritt vor. Neben den beiden Alpenrepubliken fehlen bedeutende europäische Leichtathletik-Verbände wie Italien und Spanien gänzlich im Line-Up für den WM-Marathon.
Tolle Marathon-Bedingungen
Start und Ziel der beiden Marathonläufe befinden sich nicht am Hayward Field, sondern am größten Stadion der Stadt, dem Autzen Stadium. Der recht flache, rund 14 Kilometer lange Rundkurs führt durch den Alton Baker Park und entlang des Flusses Willamette River in die Zwillingsstadt Springfield und nach zwei Wendekurven über Boulevards zurück zum Autzen Stadium. Die prognostizierten Bedingungen für den WM-Marathon mit dem frühen Startschuss um 6:15 Uhr Ortszeit sind nahezu ideal für einen Marathonlauf im Sommer: 13°C. Außentemperatur und mittlere Bewölkung.
Leichtathletik-Weltmeisterschaften 2022 in Oregon
World Athletics