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Jakob Ingebrigtsen gegen Josh Kerr ist ein Zweikampf, der die Laufwelt in Atem hält. Seit Monaten spitzt sich das Duell der beiden zu. Sie sind die Topfavoriten im 1.500m-Lauf, mögen sich kaum und starten öfters Verbalattacken gegen den jeweiligen Kontrahenten als gegeneinander auf der Laufbahn. Der unterschiedliche Weg nach Paris 2024 facht die Vorfreude auf einen spannenden Sportmoment zusätzlich an.
Als Jakob Ingebrigtsen nach seiner empfindlichen Niederlage bei den Weltmeisterschaften 2023 in Budapest den dortigen Sieger Josh Kerr mit der Bezeichnung „just the next guy“ despektierlich abwertete, war die brisanteste Rivalität auf der Laufbahn des Jahres begründet. Zum zweiten Mal in Folge hatte der Norweger es nicht geschafft, über 1.500m von vorne laufend Weltmeister zu werden. 2022 in Eugene überholte ihn Jake Wightman, 2023 in Budapest dessen schottischer Landsmann. Jeweils mit perfekten finalen 200 Metern.
Ingebrigtsen wähnte sich in Budapest geschwächt durch Halsschmerzen, Kerr fühlte sich von der Nummer eins der Welt nicht respektiert. So konterte der Schotte im Winter mit deutlichen, von enormer Angriffslust getriebenen öffentlichen Aussagen, die sein wenig freundschaftliches Verhältnis zum Skandinavier nicht verheimlichten. Zeitgleich erholte sich Ingebrigtsen in seiner Heimat von einer Verletzung an der Achillessehne, die rückblickend wohl schwerer war als zunächst angenommen.
Ingebrigtsens verletzungsbedingte Absenz in der Wintersaison und Kerrs überzeugender Lauf zum Hallen-WM-Titel vor heimischem Publikum in Glasgow drehten die Kräfteverhältnisse um. Bis dahin war klar, wer das Duell diktierte. Bis zum WM-Finale von Budapest gewann Ingebrigtsen alle neun direkten 1.500m-Duelle gegen Kerr (Vor- und Halbfinalläufe exklusive). Überhaupt kam dem Norweger im vergangenen Jahr mit Ausnahme des WM-Finals keiner nahe. Der Brite verzichtete nach dem WM-Titel auf ein neuerliches Aufeinandertreffen beim Diamond-League-Finale in Eugene. Doch nun startete der 23-jährige Ingebrigtsen mit Trainingsrückstand in die Saison, die für ihn, in Abwesenheit von Kerr, schon den Europameistertitel von Rom gebracht hat.
Der in Amerika trainierende Schotte ging mit Selbstbewusstsein in die neue Saison. Bei seinem „Heimspiel“, dem Diamond-League-Meeting in Eugene in der Wahlheimat Oregon, trafen die beiden erstmals in einem Meilenrennen aufeinander. Kerr siegte in 3:45,34 Minuten vor Ingebrigtsen, der aufgrund seines Trainingsrückstandes umgehend zufriedene Einschätzungen verbreitete. Das Duell war eine Show und eine Inszenierung. Kerr tönte: „Ich habe gezeigt, dass ich der beste Mittelstreckenläufer der Welt bin.“
Ingebrigtsen ist seit Jahren einer der präsentesten Top-Athleten. Er lässt nur wenige Startgelegenheiten in der Diamond League aus und zeigt sich regelmäßig dem Publikum in Europa. Der Olympische Vorlauf wird sein neunter Wettkampfstart, seit dem Saisonauftakt in Eugene hat er alle gewonnen — egal ob Vorlauf, Finale oder Meeting. Dass seine direkte Konkurrenz das nicht so hält, hat Ingebrigtsen letztens moniert.
Kerr absolvierte im selben Zeitraum nur den Start bei den britischen Meisterschaften – und das abseits seiner Spezialdistanz über 800m. 1.500m-Rennen hat Kerr seit den Weltmeisterschaften erst eines bestritten: eine Woche später in Zürich. Kerr begründete seine wenigen Auftritte gegenüber dem britischen Leichtathletik-Magazin „Athletics Weekly“ mit der Sorge vor Verletzungen und Infektionen. Just mit letzterem hat der Norweger bei der WM 2023 und bei der Hallen-WM 2022 nicht die besten Erfahrungen gemacht.
Kerr blieb nach dem Verbalgeplänkel im Winter, dem Ingebrigtsen laut einer Agenturmeldung der AFP entgegnete, er hätte Kerr in den Hallenrennen „mit verbundenen Augen“ besiegt, auch im Frühsommer auf dem Gaspedal. Er garantiere eine britische Medaille im 1.500m-Lauf, meinte er nach der Pre Classic Ende Mai in Eugene und zog auch die starke britische Konkurrenz in Betracht. Ex-Weltmeister Jake Wightman schaffte es zwar nicht ins Team, daher sind mit George Mills und Neil Gourley zwei Außenseiter auf Medaillen im Rennen. Das Duo liegt auf den Weltranglisten-Positionen sechs und 16, Kerr ist hinter Ingebrigtsen und dem US-Amerikaner Yared Nuguse übrigens die Nummer drei. „Ich fahre nach Paris, um Gold zu holen!“, legte Kerr selbstbewusst nach.
Diese Hoffnungen scheint auch die britische Leichtathletik zu hegen. Das 64-köpfige Athlet*innen-Team hat Kerr als Teamkapitän für die starke Leichtathletik-Delegation für Paris 2024 nominiert, von der einige Medaillengewinne zu erwarten sind. „Eine Ehre, die das Vertrauen in mich zeigt. Ich werde alle in unserem Team unterstützen“, so Kerr.
Mit 17 hat er seine Heimatstadt Edinburgh verlassen und sich an der University of New Mexico in Albuquerque inskribiert, in der Nähe eines der wichtigsten Höhentrainingszentren der USA. Alles, um seinen Traum von Olympischem Gold zu realisieren. Vor drei Jahren in Tokio gewann er, damals etwas überraschend, bereits die Bronzemedaille.
Kerr trainierte in den letzten Wochen und Monaten großteils in Albuquerque, Wettkampfreisen nach Europa wären sehr zeitaufwändig gewesen. Auch vor den letzten globalen Höhepunkten kam der Schotte ohne viele Wettkämpfe aus, es ist allerdings zum ersten Mal, dass der Vorlauf bei den Olympischen Spielen offiziell sein erster 1.500m-Wettkampf der Saison ist.
Sein Trainingsstandort ist allerdings nicht Albuquerque im Süden, sondern Seattle im US-Bundesstaat Oregon im Norden der USA, wo er Teil des Brooks Beasts Track Club unter der Leitung von Trainer Danny Mackey ist – als eines der Aushängeschilder der Sportmarke. Liiert ist der 26-jährige Schotte seit Jahren mit der Medizinstudentin Larimar Rodriguez. Sein Vater John war ein Rugbyspieler, auch Mutter Jill hat als Physiotherapeutin Bezug zum Sport.
Zwei Wochen nach den erfolgreichen Europameisterschaften mit zwei Goldmedaillen strahlte im Hause Ingebrigtsen in der südwestnorwegischen Kleinstadt Sandnes auch das private Glück. Der 23-jährige Jakob wurde erstmals Vater, seine Frau Elisabeth Asserson gebar Tochter Filippa. Beide planen im übrigen eine Reise nach Paris. Bereits wenige Tage nach der Geburt ließ sich der stolze Vater mit seiner Tochter auf der Laufbahn in Sandnes ablichten, wo praktischerweise gerade die norwegischen Meisterschaften stattfanden.
Der Trip von der „Wahlheimat“ (die Ingebrigtsens verbringen großteils des Sommers in St. Moritz) in die Heimat zur Geburt unterbrach den Höhentrainingsaufenthalt, bei dem Ingebrigtsen in Begleitung seiner Brüder Henrik und Filip auch die optimale Betreuung des norwegischen Teams genoss. Entgegen erster Meldungen wurden Henrik und Filip für die Olympischen Spiele dank der Lobbyarbeit des norwegischen Verbandes (beide hatten ja die sportliche Qualifikation verpasst, Anm.) akkreditiert, ansonsten wäre der Olympiasieger von Tokio ohne Coach und Direktbetreuung aus seinem Umfeld nach Paris gereist. Der Bruch mit Vater Gjert, ehemals ihr Erfolgstrainer, ist für die Brüder nach den Misshandlungsvorwürfen nach wie vor evident (siehe RunUp-Bericht).
Dass die sportliche Verfassung nach der Verletzung im Winter kein Problem ist, zeigt der Europarekordlauf von Monaco (3:26,74 Minuten) mit einer fabelhaften Schlussrunde – ein Signal Richtung Kerr, der wohl den besseren Endspurt hat. Kurz vor den Olympischen Spielen ließ das Team Ingebrigtsen mit einem in St. Moritz aufgenommenen Song aufhorchen. Die drei Brüder trällerten den wohl inoffiziellen Erfolgssong der norwegischen Olympia-Delegation „Ingen gjor det bedre“, so viel wie eine Ankündigung, dass keine Nation in Paris besser performe als die norwegische. Die finale Vorbereitung absolviert das norwegische Team in Reims, einer Kleinstadt nordöstlich von Paris.
Das Duell Ingebrigtsen gegen Kerr unter den Olympischen Ringen von Paris ist auch deshalb ein besonderes, weil die Renngestaltung eine entscheidende Rolle übernimmt. Der Norweger ist statistisch zweifelsohne der schnellere Mann. Wenn ein Tempomacher im Rennen ist, hat nicht nur der Schotte kaum eine Chance gegen Ingebrigtsen in Topform. Wenngleich Kerrs Trainer Mackey gegenüber „Let’sRun.com“ sagte, dass sein Schützling in einem pfeilschnellen Rennen mittlerweile eine 3:26er-Zeit laufen könne – der Nachweis fehlt.
Doch Ingebrigtsen hat ein Problem und das bezeichnete Kerr im Winter öffentlich als Schwäche. Wenn er selbst das Tempo machen muss, egal ob über die gesamte Distanz oder ab Rennmitte, ist er schlagbar, wie die WM-Rennen 2022 und 2023 sowie die Hallen-WM 2022 zeigten. Da der Norweger nicht den besten Schlussspurt hat, ist die Auswahl der Taktik diffizil. Denn in den letzten globalen Finals zog derjenige, der die Pace bestimmte, regelmäßig den kürzeren. Ingebrigtsen, der in den letzten beiden WM-Finals überholt wurde, profitierte selbst davon im Olympiastadion von Tokio, als Timothy Cheruiyot den Rennverlauf bestimmte und am Ende als damals amtierender Weltmeister hinter dem Norweger mit Silber zufrieden sein musste.
Ingebrigtsen sei der Olympiasieger, also habe er etwas zu verlieren, versucht Kerr den Druck von seinen Schultern zu nehmen. In seinem Instagram-Feed philosophiert er: „Vor Tokio kannte niemand meinen Namen, nach Budapest alle. Paris wird der Gipfel!“ Gleichzeitig behauptet gegenüber der schottischen Boulevardzeitung „The Daily Record“: „Ich bin der Beste der Welt. Ich habe das beste System, die besten Trainer!“ Und dann fügte er, in der heutigen Zeit etwas deplatzierte, martialische Äußerungen hinzu, um das Olympische Finale im 1.500m-Lauf am 6. August zu beschreiben.
Außerdem gibt folgende Aussage Einblick in das schier unersättliche Selbstbewusstsein des Schotten, welches er selbst vom Begriff Arroganz abgrenzt: „Habe ich mich seit Budapest verbessert? Massiv! Meine Hallenleistungen haben das gezeigt, das Momentum ist auf meiner Seite.“
Ingebrigtsen reagierte medial auf keine der Attacken Kerrs direkt. Dass er von sich glaubt, der Weltbeste zu sein und von seinem Weg inklusive der Auswahl, auf welche Weise er einen Wettkampf gestaltet, unerschütterlich überzeugt ist, ist hinlänglich bekannt. Der 23-Jährige erfreut sich nicht nur Beliebtheit in der Szene, viele bezeichnen ihn als arrogant. Aber alle bewundern seine Leistungsfähigkeit. Welche taktischen Lehren er aus den WM-Finals gezogen hat, wird das Olympische zeigen.
Am 6. August, rund dreieinhalb Minuten nach dem um 20:50 Uhr geplanten Start des 1.500m-Finals, werden die Antworten auf alle Fragen gegeben sein. Die Experten von „Let’sRun.com“ erspüren ein „all-time classic“. Ingebrigtsen und Kerr wollen beide gewinnen, es ist schwer vorzustellen, dass das Duo nicht auf dem Siegerfoto steht. Doch die Konkurrenz ist durchaus namhaft: Yared Nuguse aus den USA ist zwischen den beiden Weltranglisten-Zweiter und hat mehrfach nachgewiesen, dass er zur Weltklasse gehört. Auch wenn dem WM-Fünften und Hallen-WM-Zweiten über 3.000m (hinter Kerr) abgesehen von zwei Diamond-League-Siegen die ganz großen Erfolge fehlen: Gegen den Briten hat er auf der Mittelstrecke eine Gesamtbilanz von 2:2, gegen Ingebrigtsen konnte der 25-Jährige in sieben Rennen über die Meile oder die „metrische Meile“ freilich noch nie gewinnen.
Auch von Ex-Weltmeister Timothy Cheruiyot, der in der Weltrangliste nur auf Position 18 liegt, kommen angriffslustige Töne. Er sei fit und bereit, um Gold mitzulaufen, berichten kenianische Medien. Bei den Bislett Games in Oslo hätte er im Juni beinahe Ingebrigtsens Heimspiel verdorben. Dazu sehen US-Plattformen in Cole Hocker und dessen Endschnelligkeit, die ihn zum Trial-Sieg vor Nuguse geführt hat, einen Medaillenkandidaten, das Riesentalent Niels Laros geht ohne 1.500m-Saisoneinsatz in den Vorlauf, ist aber ein unberechenbarer Protagonist. Der Holländer ist der einzige der hochgelobten Teenager im Rennen, weil der australische Verband den dritten Startplatz an Adam Spencer und nicht an den 18-jährigen Cameron Myers vergab. Weil Spencer im letzten Jahr furioserweise das Limit schaffte und Myers bei den diesjährigen australischen Meisterschaften besiegte.
Autor: Thomas Kofler
Bild: © Dan Vernon for World Athletics – Josh Kerr bejubelt den Hallen-WM-Titel 2024