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Während für die meisten Leichtathletik-Bewerbe der Qualifikationszeitraum für die Olympischen Spiele erst Ende Juni endet, sollten die Fakten für die Marathonläufe seit 5. Mai klar sein. Sind sie aber nicht, weswegen einige Athleten, die auf eine Qualifikation über die Weltrangliste abzielten, sich nun kritisch äußern. Es scheinen Olympische Marathonläufe zu werden, in deren Felder nur Läufer*innen mit unterbotenem Direktlimit oder Spezialeinladung teilnehmen dürfen.
Die Überraschung war groß. Und sie war böse für Hugo Catrileo, Silbermedaillengewinner bei den PanAm Games im heimischen Santiago im vergangenen Herbst. Als 71. der „Road to Paris“ war sich der 27-Jährige am 5. Mai sicher, sich für das 80-köpfige Olympische Starterfeld im Marathon der Männer qualifiziert zu haben. So verkündete es laut der Plattform „Inside The Games“ auch der Leichtathletik-Weltverband (World Athletics) gemäß der eigenen, den Qualifikationsmechanismus betreffenden Regularien.
Das fiese Erwachen provozierten die „Universality Places“, also spezielle Einladungen durch World Athletics, denen der Weltverband gegenüber den Weltranglistenpositionen Vorrang gab und damit nur wenige Tage nach dem Ende des Qualifikationszyklus für einigen Ärger rund um den Globus sorgte. „Es wäre gut, wenn diese Athleten starten könnten – ich verstehe den Olympischen Geist. Aber nicht auf Kosten von Athleten, die sich für die 80 Startplätze qualifiziert haben“, äußerte der Chilene gegenüber „Inside The Games“ kein Verständnis dafür. Ursprünglich elf, nun noch zehn Einladungen ließen ihn aus den Top-80 rutschen. Die „Road to Paris“, seit Monaten wöchentlicher Indikator über den Qualifikationsfortschritt Richtung des Sporthöhepunkts des Jahres, verkam zum nutzlosen Instrument. Die Regeländerung sei erfolgt, nachdem Catrileo sein Wettkampfprogramm abgeschlossen habe. Darauf pocht nicht nur der Chilene, sondern auch einige Leidensgenossen.
Sein Wettkampfprogramm habe der Südamerikaner bewusst auf möglichst viele Weltranglistenpunkte ausgerichtet, wie er im Interview mit der chilenischen Tageszeitung „La Tercera“ klagend vorbrachte. Außerdem entschied er sich für einen Start beim Houston Marathon Mitte Jänner mit der Hoffnung, bis Ende Jänner unter die Top-64 der „Road to Paris“ zu rücken, denen World Athletics den Fix-Startplatz versprochen hatte. Und damit auch gegen einen Start bei einem anderen Frühlingsmarathon, für den er einen längeren Vorbereitungszeitraum gehabt hätte. „Die Entscheidung der Universality Places belastet mich psychologisch und emotional“, klagte er gegenüber „Inside The Games und bemängelte, dass von World Athletics nie klare Informationen verfügbar waren.
Die gleiche emotionale Achterbahnfahrt musste auch Liam Adams mitmachen. „Als ich gehört habe, dass Athleten über die Universality Places die Weltrangliste um zehn Positionen verschoben, war es ein kompletter Schock für mich“, sagte der Australier gegenüber „ABC News“. Im Alter von 37 Jahren wollte der Marathonläufer, der in Melbourne einem Beruf nachgeht und das Laufen in seiner Freizeit betreibt, ein letztes Mal Olympische Luft schnappen. „Es fühlte sich an wie ein Albtraum. Ich kann nicht aufhören, mich darüber zu wundern, was da passiert ist“, so Adams, in der „Road to Paris“ drei Positionen hinter Catrileo, weiter.
Der ursprüngliche Plan des Leichtathletik-Weltverbandes (World Athletics) lautete mit Start des Qualifikationszeitraums am 6. November 2022, rund die Hälfte der Olympischen Teilnehmerfelder an Mitgliedsverbände zu vergeben, die Athlet*innen mit Direktlimits nominieren können (maximal drei pro Nation). Die zweite Hälfte sollte durch Athlet*innen aufgefüllt werden, die die nächstbesten Positionen in der Weltrangliste, maßgeschneidert für die Spiele in der so genannten „Road to Paris“, bekleiden. Das komplexe System der Weltrangliste in Kombination mit den Limits leitet die Wettkampf-Auswahl der Läufer*innen stark. So sind zum Beispiel Marathon- und Halbmarathonläufe mit nationalen oder kontinentalen Meisterschaften aufgrund der Zusatzpunkte besonders attraktiv, weil dort viele Bonuspunkte im Spiel sind.
Für die geschilderte Ambition verschärfte World Athletics die Limits gegenüber den Spielen von Tokio deutlich und setzte sie auf 2:08:10 bzw. 2:26:50 Stunden fest. Schließlich sind laut Kontingent 80 Startplätze für die Marathonläufer*innen vorgesehen, das Internationale Olympische Komitee (IOC) erlaubt aus organisatorischen Gründen pro Sportart nur strikte Kontingente, die Leichtathletik hat 48 Medaillenentscheidungen abzudecken. Für die Olympische Kernsportart sind 1.810 Teilnehmer*innen vorgesehen, fair aufgeteilt zwischen Männer- und Frauenbewerben. „Nur“ 1.810, in Tokio waren es noch 90 mehr. Für die Marathonläufe erwies sich die Verschärfung der Limits als nicht wirksam, so dass bereits für die nächsten Weltmeisterschaften in Tokio noch deutlich drastischere Limits im Raum stehen.
Denn die Realität entwickelte sich ganz anders als die Theorie. Bis zum Ende des Qualifikationszeitraums verbuchten die nationalen Verbände 88 Startplätze für den Marathonlauf der Frauen, darunter Julia Mayer (DSG Wien) aus Österreich, die mit ihrer Bestleistung von 2:26:43 Stunden vom Valencia Marathon 2023 auf Platz 87 der Rangliste rangiert – also trotz Limit sogar außerhalb der anvisierten Top-80. Ihr Startplatz ist laut Definition gesichert, eine offizielle Kommunikation darüber, dass das Teilnehmerinnenfeld erweitert wird, liegt noch nicht vor. Auch irritiert, dass World Athletics zum Zeitpunkt des 30. Jänners 2024 eigentlich die ersten 64 Startplätze pro Marathonlauf offiziell fixieren wollte, was trotz Ankündigung aber nie in einer Publikation oder Mitteilung nachvollziehbar gemacht wurde.
Bei den Männern gingen 70 Startplätze an nationale Verbände mit Athleten, die sich über das Direktlimit qualifiziert haben – maximal drei pro Nation. Daher spielten die Weltranglistenpositionen bis zum Schluss eine Rolle für die restlichen zehn Startplätze. Vermeintlich. Denn eine für stark gegensätzliche Positionen sorgende Klausel, die schon seit Jahren den Qualifikationsmechanismus last-minute verändert, hat in diesem Fall massive Auswirkungen. Um möglichst eine große Nationenvielfalt zu gewährleisten, erlaubt World Athletics nationalen Verbänden die Nominierung einer Athletin oder eines Athleten in Besitz einer Art „B-Limit“ von 2:11:30 bzw. 2:29:30 Stunden, falls keine Direktqualifikationen über die Limits aus diesen Nationen vorhanden sind. Außerdem erlaubt World Athletics die x-beliebige Nominierung für Kleinverbände, die keine*n qualifizierten Athlete*n in der Leichtathletik haben – und zwar ausschließlich für die Bewerbe 100m, 800m und Marathon, wie Runner’s World.com berichtete. Damit soll die Leichtathletik als global umspannende Sportart präsentiert werden.
Die Idee der „Universality Places“ mag einerseits Verständnis hervorrufen, andererseits erwecken sie aber den starken Eindruck der abwesenden Fairness. In diesem Fall sorgen sie daher zusätzlich für großen Ärger, individuell bei den betroffenen Athleten, aber auch bei den nationalen Verbänden, die auf ihre nationalen Kontingente pochen. Exakt zehn Einladungen füllen das Marathon-Feld der Männer auf 80 auf. Werden alle angenommen, schauen die vermeintlich auf den Road-to-Paris-Positionen 71, 72. usw. liegenden Athleten durch die Finger. Hauptbetroffene sind Hugo Catrileo aus Chile, der beim Houston Marathon 2024 eine Zeit von 2:08:44 Stunden gelaufen ist und für Position fünf erhebliche Zusatzpunkte bekommen hat, Elroy Gelant aus Südafrika, Liam Adams aus Australien, Sieger des Gold Coast Marathon 2023, und Leonard Korir, Dritter der US-Trials mit zwei Leistungen unter 2:10 Stunden.
Der US-Amerikaner hat australischen Medienberichten zufolge bereits seinen Anwalt eingeschaltet, um den Startplatz einzuklagen und World Athletics unter Druck zu setzen. Athletics Australia will für Adams beim Weltverband intervenieren, Petitionen laufen. Gegenüber „ABC News“ sagte Adams, weder er noch der australische Verband wären nach den zur Verfügung stehenden Informationen je auf die Idee gekommen, dass ein Platz in den Top-80 der „Road to Paris“ am Ende des Qualifikationszeitraums nicht zu einer Teilnahme reichen könnte. Daher sei die nachträgliche Positionsverschiebung zu seinem Nachteil für den beliebten, 37-jährigen Athleten ein kompletter Schock gewesen.
Adams und Co. droht nun die Zuschauerrolle, im Gegensatz zu einer Reihe von „No Names“. Der Sudan, Jordanien, Tschad, die Kapverdischen Inseln, die Amerikanischen Jungferninseln, Malta, Nordkorea, Nordmazedonien, Uruguay und Zypern haben einen Startplatz im Olympischen Marathon. Nur Dario Ivanovski aus Nordmazedonien ist zumindest in die Nähe des Limits gelaufen. Ganz kurios ist der Fall Yaseen Abdalla aus dem Sudan, der auf einen Startplatz eingeladen ist, laut Profil auf der Website von World Athletics aber nicht nur noch nie einen Marathon-, sondern noch nie einen offiziellen Straßenlauf-Wettkampf bestritten hat.
Bei den Frauen erhielten Namibia mit Altstar Helalia Johannes, Bhutan, Lesotho, Bulgarien, Simbadwe, Nepal und Kirgistan eine Einladung, was den Marathonlauf der Frauen auf 95 potenzielle Starterinnen aufbläst. Kinzang Lhamo aus dem Königreich im Himalaya hat übrigens laut „Athletics Illustrated“ eine Marathon-Bestzeit von 3:26:42 Stunden. Ob sie alle den Startplatz letztendlich wahrnehmen, scheint auch noch nicht gesichert – was die Planung für alle potenziellen Nachrücker wie Catrileo enorm erschwert.
Die Kuriosität dieser Causa ist mit einem gewissen Logikanspruch wahrlich nicht einfach auf verständliche Weise darstellbar. Gegenüber „Inside The Games“ ließ auch Marathonläufer Catrileo seinem Sarkasmus freien Lauf: „Vielleicht schreibe ich dem Verband 2028 eine E-Mail mit der Bitte um einen Startplatz bei den Spielen von Los Angeles in einer Wurf- oder Sprungdisziplin.“
Auf eine seriöse Antwort hinblicklich eines Marathonstarts von Catrileo in Paris 2024 vom Weltverband wartet der chilenische Leichtathletik-Verband, der ihn vertritt, weiterhin offenbar vergeblich. Der Athlet setzt seine Olympia-Vorbereitung wie geplant fort – schließlich liege in den Top-80 ja noch der wegen Dopings suspendierte Marius Kimutai, dessen bahrainischen Startplatz keiner seiner Landsleute übernehmen kann. Und so hat der Südamerikaner doch noch Chancen auf ein Happy End nach diesem Ärgernis – im Gegensatz zu manch anderem, der unverhofft aus den Top-80 rausgerutscht ist.
Autor: Thomas Kofler
Bild: Unsplash / Paul Wallez