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Die 17-jährige Engländerin nahm sachte Schwung auf und schockte die britische Laufwelt mit ihrem Saisoneinstieg 2024. Phoebe Gill ist das neueste Supertalent im europäischen Laufsport und hat ihr Ticket für die Olympischen Spiele in Paris gebucht. Ihre 800m-Leistungen sind im historischen Vergleich eine Besonderheit und erste Anzeichen einer potenziell großen Karriere.
Es ist der 11. Mai. Auf der Laufbahn des Mary Peters Track in Belfast läuft Phoebe Gill den ersten Wettkampf der Saison und bringt die Laufwelt zum Verblüffen. Seit gerade einmal 14 Tagen 17 Jahre alt, hielt sie die Zeitnehmung als Siegerin des 800m-Lauf bei einer Zeit von 1:57,86 Minuten an. Sie war über dreieinhalb Sekunden schneller als bei ihrem bisher schnellsten Lauf über zwei Stadionrunden. Sie unterbot den britischen U18-Rekord von Charlotte Moore um fast zwei Sekunden, die Bestzeit der heutigen Olympia-Favoritin Keely Hodgkinson in deren U18-Zeit um fünfeinhalb Sekunden. Die europäische U18-Bestleistung der Deutschen Marion Geissler-Hübner um 1,8 Sekunden, die afrikanische U18-Bestleistung der ehemaligen Junioren-Weltmeisterin Diribe Welteji, heute eine der weltbesten 1.500m-Läuferinnen, in ähnlicher Dimension. In der britischen U20-Bestenliste liegt nur die Olympia- und zweimalige WM-Zweite, Hodkinson, noch vor ihr.
Das sind die Fakten. Sie lenkten die Scheinwerfer der europäischen Laufszene auf das Lauftalent aus der Kleinstadt St Albans etwas nördlich von London. 2023 hatte sie bei den Commonwealth Youth Games in Port of Spain, der Hauptstadt von Trinidad & Tobago, die Goldmedaille gewonnen – ein Erfolg, von dem außerhalb des Vereinigten Königreichs kaum jemand Notiz genommen hat. In der britischen Leichtathletik dagegen schon, schließlich war es fast ein halbes Jahrhundert her, dass zuletzt eine 17-Jährige einen so schnellen 800m-Lauf absolviert hat. „Ich hätte mir nicht gedacht, eine solche Zeit schon in dieser Saison drauf zu haben“, sagte sie dem britischen Leichtathletik-Magazin „Athletics Weekly“ nach dem Triumph. Heute lächelt Gill über die damalige Leistung von 2:02,30 Minuten wohl müde.
Denn zwei Wochen nach der Belfast-Sensation startete Gill bei einem internationalen Meeting in Manchester und bestätigte dort die Wunderleistung: 1:58,07 Minuten. Wie gut das ist, zeigt der Vergleich mit der Konkurrenz. Ciara Mageean, die zwei Wochen später in Rom Europameisterin im 1.500m-Lauf werden sollte, verbesserte ihren eigenen irischen 800m-Rekord deutlich – und blieb trotzdem klar hinter Gill zurück.
Geburtsdatum: 27. April 2007
Nationalität: britisch
größte Erfolge: britische Meisterin 2024 im 800m-Lauf
nächstes Ziel: Olympische Spiele 2024
Eilig lud der britische Verband die 17-Jährige zu den Europameisterschaften nach Rom ein, doch sie lehnte eine Nominierung ab. Offenbar hatten die Teenagerin und ihr Umfeld bereits die Olympischen Spiele im Blick, das Limit hatte sie schließlich locker geschafft. Im Gegensatz zu den Europameisterschaften fehlte Europas beste 800m-Läuferin Keely Hodgkinson bei den britischen Meisterschaften Ende Juni in Manchester. Gill schlug keine geringere als die Olympia-Vierte von Tokio, Jemma Reekie, und zeigte mit einer Leistung von 1:58,66 Minuten neuerlich ihr Potenzial. Arrivierte Läuferinnen wie Tokio-Olympionikin Alexandra Bell oder Ellie Baker hatten gegen die 17-Jährige klar das Nachsehen. Der Olympia-Startplatz war laut Vorgaben des britischen Verbandes mit dem Meistertitel fixiert. Laut „Daily Mail“ ist Gill die jüngste Leichtathletin seit über vier Jahrzehnten, die für Großbritannien bei Olympischen Spielen an den Start geht.
Eigentlich sollte Phoebe Gill zu den Entdeckungen der letztes Wochenende stattfindenden U18-Europameisterschaften gehören (siehe RunUp-Bericht), stattdessen war sie die prominente Abwesende. Dank der – vor der Saison – ungeplanten Qualifikation für die Olympischen Spiele verzichtete sie auf den angedachten Saisonhöhepunkt und wählte jenen, der die Grundlage aller Träume von Sportler*innen weltweit bildet.
Wie sie im besagten Interview mit „Athletics Weekly“ betonte, ist die britische Mittelstreckenlegende Kelly Holmes ihr großes Vorbild. Holmes‘ grandiose Darbietungen bei den Olympischen Spielen 2004 in Athen sind vielen Lauffans noch vor Augen, sie werden sich in einigen Wochen zum 20. Mal jähren. Phoebe Gill hat Holmes vergoldete Läufe nicht live gesehen. Sie wurde erst knapp drei Jahre später geboren.
Läuft alles nach Plan, reiht sich Phoebe Gill in eine Reihe von Teenie-Sensationen ein, die große Karrieren lange Jahre bereits ankündigen. So geschah es etwa mit Jakob Ingebrigtsen, bei dem die Laufwelt schon Jahre vor seinem Durchbruch wusste, welch Rohdiamant da auf die Szene zukommt. Aktuelle Beispiele sind Niels Laros und Cameron Myers, die Vergleichsleistungen mit dem gleichaltrigen Ingebrigtsen bereits optimiert und auf dem Weg in die Weltklasse sind. Der Australier Mayers hat es wegen starker nationaler Konkurrenz noch nicht zu den Olympischen Spielen geschafft, Laros, der die europäischen Nachwuchsklassen seit Jahren dominiert, schon. Welch Potenzial der Holländer aufweist, weiß Europas Laufszene schon seit geraumer Zeit. Bei Gill ist es ein bisschen anders, bei ihr schwingt die Story der Senkrechtstarterin (noch) mit.
Dass Spitzenzeiten in der Jugend nicht immer einen harmonischen Übergang in die Allgemeine Klasse bedeuten, zeigt das Beispiel ihres Landsmanns und Disziplinkollegen Max Burgin. 2018 wurde er U18-Europameister, Im Alter von 17 Jahren lief er eine 1:45er Zeit, als 18-Jähriger erstmals unter 1:45, 2021 den immer noch gültigen Junioren-Europarekord von 1:44:14 Minuten. Verletzungsbedingt verpasste er die Olympischen Spiele von Tokio. 2022 steigerte er sich auf eine Zeit von 1:43,52 Minuten, konnte aber bei den Weltmeisterschaften als britischer Meister wieder wegen einer Verletzung nicht an den Start gehen. 2023 scheiterte er im WM-Halbfinale von Budapest, vor den Spielen scheint der mittlerweile 22-Jährige nicht in seiner besten Verfassung.
Ihre Trainerin Deborah Steer vom Heimatclub St Albans Athletics Club lobt Gill in einem Porträt auf der Website von Team England in hohen Tönen. Sie ließe ihr alle Freiheiten in der Entwicklung und Erfahrungsgewinnung und auch alle altersgemäßen Fehler zu. Sie sei extrem unterstützend und übe nie übertrieben Druck aus, dafür sei sie eine extrem gute Motivatorin. „Um ehrlich zu sein, ich hatte nie einen Sport-Fanatismus. Aber seitdem ich mit dem Laufen begonnen habe, habe ich eine Liebe zur Leichtathletik entwickelt. Ich liebe die Community, die mich sehr gut aufgenommen hat“, so die Athletin, die in jungen Jahren Schwimmerin war.
Sie imponiert mit einem reifen Auftreten für ihr Alter. Nach dem britischen Meistertitel veröffentlichte „Athletics Weekly“ auf Facebook ein Video-Interview mit ihr, in dem sie in ihrer natürlichen Art, mit kontrollierten emotionalen Regungen und trotzdem einer gewissen Lockerheit detail- und umfangreiche Antworten gab. Eine Berührungsangst mit den Medien kann man ihr hier kaum nachsagen, sie fühlte sich sichtlich wohl. Und sie ist sich der Besonderheit ihrer Leistungen bewusst: „Es ist absolut verrückt, dass ich nun in der Situation bin, nach Paris zu fahren!“
Als Gründe für ihre Entwicklung nannte sie in diesem Interview: „Ich trainiere extrem seriös, absolut professionell, auch auf der mentalen Seite. Ich habe mich im lauftechnischen Können stark verbessert.“ Bei den Olympischen Spielen in Paris solle sie, wenn möglich, befreit auflaufen, empfiehlt ihr Deborah Steer. Die Trainerin, die sie seit fünf Jahren betreut, sagte nach den britischen Meisterschaften gegen über der BBC: „Wenn man so gut ist, ist die gestiegene Erwartungshaltung eine Gefahr. Sobald der Startschuss ertönt, muss Phoebe frei drauf los laufen und in ihrem Fokus bleiben.“
Prognosen ließ sie sich freilich keine entlocken. In der „Road to Paris“ rangiert Gill auf der respektablen elften Position, ihre Landsfrauen Keely Hodgkinson (1.) und Jemma Reekie (5.) sind besser platziert und auch nach den jüngsten Ergebnissen des Diamond-League-Meetings in London (siehe RunUp-Bericht) die wahrscheinlicheren Prognosen für eine Finalteilnahme.
Wenn Phoebe Gill so weitermacht, wird der Auftritt in Paris freilich nicht ihr letzter unter Olympischen Ringen sein. Als Profi läuft sie schon, vor kurzem unterzeichnete sie einen Sponsoringvertrag mit Puma.
Autor: Thomas Kofler
Bild: © Pixabay / Free Photos