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Aufgrund einer Aufsehen erregenden, vier Jahre dauernden Dopingsperre hat Shelby Houlihan die besten Jahre ihrer Leistungssportkarriere in der Rolle der Zuschauerin verbringen müssen. Sie war auf dem Weg in die absolute Weltklasse und wurde gebremst. Nun ist die 31-Jährige rehabilitiert und wieder startberechtigt. Am Samstag, eine Woche vor ihrem 32. Geburtstag, kehrt sie bei einem Meeting in Fayetteville zurück auf die Wettkampfbühne.
Die Sicht von Shelby Houlihan auf die vergangenen vier Jahre, die dunkelsten ihrer Karriere mit einem empfindlichen Karrierestopp und zwei verpassten Olympischen Spielen als hauptsächlichen Nackenschlägen, ist geprägt von Ungerechtigkeit, von Trotz, von Frustration. Ihre Erzählung beginnt am 14. Dezember 2020 in Beaverton, einer Kleinstadt im US-Bundesstaat Oregon.
Beaverton ist aus einem Grund weltbekannt: Nike hat dort seinen Sitz. Es ist ein für die Jahreszeit angenehmer Wintertag. Gemeinsam mit Laufkollegin Courtney Frerichs, später Olympia-Medaillengewinnerin im 3.000m-Hindernislauf von Tokio 2020, und deren Schwester, die auf Besuch war, genehmigen sich die drei einen Burrito bei einem nahen Imbissstand. Es ist halb acht abends. Wie jeden Montagabend war der Plan klar wie in Stein gemeißelt: Burrito und dann gemeinsames Schauen einer Fernsehserie. „The Bachelorette“. Zeug*innen aus dem Teamcamp berichten bei den Ermittlungen später, es waren stimmungsvolle „Frauenabende“.
Die Sicht der Athletics Integrity Unit (AIU) und in weiterer Folge der Welt Anti Doping Agentur (WADA) ist eine nüchterne: Ihre Darstellung beginnt einige Stunden später, am 15. Dezember 2020 um kurz nach 6 Uhr morgens. Da klingelte es an der Tür Shelby Houlihans. Die damals beste und hoffnungsvollste amerikanische Mittelstreckenläuferin bekam Besuch von Kontrolleur*innen. Mit internationalem Auftrag, keine im Auftrag der US-amerikanischen Anti-Doping-Behörde (USADA). In der Urinprobe wurde im Anti-Doping-Labor die im Spitzensport laut WADA-Code verbotene Substanz Nandrolon, ein anaboles Stereoid, entdeckt. Der Verdacht erhärtete sich sechs Wochen später, als die B-Probe das positive Resultat bestätigte.
Shelby Houlihan, damals mit Olympiasieger Matt Centrowitz liiert, befand sich gerade im Trainingslager mit ihrem Team in der Höhe von Flagstaff, als die Mail von der AIU eintraf, wie die „Washington Post“ 2023 erzählte. Houilhan wurde provisorisch gesperrt, letztendlich wurden vier Jahre daraus. Es ist einer der prominentesten Fälle außerhalb Kenias und Russlands in den letzten Jahren. Und ein in vielerlei Hinsicht bemerkenswerter. Ihr Anwalt, Paul Green, sprach gegenüber der „Washington Post“ vom „ungerechtesten Fall, den ich je gesehen habe“. Seit zwei Jahrzehnten vertritt er Athlet*innen regelmäßig bei Klagen gegen eine Sperre.
Mit 13. Jänner endete die vierjährige Dopingsperre der Athletin, die aus Sioux City im US-Bundesstaat Iowa stammt. Eine Kleinstadt im Mittleren Westen mit kalten Wintern, heißen Sommern und einem 600 Meter hohen Fernsehsendemasten. „Ich habe es geschafft. Ich fühle Erleichterung, Glück und Stolz, dass ich die Zeit durchgestanden habe. Aber ich bin immer noch unglaublich wütend und traurig, dass ich in dieser Situation war. Ich habe immer noch keine wirklichen Antworten auf das, was sich vor vier Jahren ereignet hat“, schrieb die Athletin auf ihrer Instagram-Seite. Und schoss nach: „Einige Dinge, die ich gesehen habe, sind Ungereimtheiten bei Standards und Protokollen, ein Mangel an Transparenz und Verantwortlichkeit innerhalb der Anti-Doping-Organisationen. Leider scheinen die Athlet*innen und der Sport die Leidtragenden zu sein.“
Wie amerikanische Fachmedien darstellen, hat Houlihans aufwändiger Kampf gegen die Sanktion ihr wenig Freund*innen in der Szene und wenig Beliebtheit in sozialen Medien beschert. Sie selbst erzählte gegenüber „Runner’s World“ auch von negativen Erlebnissen mit Fans. Sauer aufstößt in diesen Wochen eine Dokumentation der Plattform „FloTrack“, in den USA bekannt für viele Leichtathletik-Liveübertragungen, mit dem Titel „Rising“, die in wenigen Tagen veröffentlicht werden soll. Sie erzählt die vierjährige Zeitspanne der Sperre. Die zu befürchtende Heroisierung der suspendierten Athletin kam in der Community auf sozialen Netzwerken nicht gut an.
In einem Interview mit der „Washington Post“ schilderte Houlihan im August 2023 ihre Gefühlswelt. Jeden Tag denke sie daran, dass sie ihren Beruf nicht ausüben könne: „Ich glaube, es wäre viel, viel einfacher den Prozess zu akzeptieren, wenn ich betrogen hätte. Dann könnte ich sagen: Das sind die Konsequenzen meines Handelns. Aber so ist es viel härter, weil es immer zu einem Punkt führt: Ich habe das nicht verdient!“
In der Zwischenzeit durfte Houlihan gemäß der Regeln nicht nur an keinen Wettkämpfen teilnehmen, sondern auch in keiner Trainingsgruppe trainieren. Sie nahm an drei Wettkämpfen teil, die außerhalb des Zuständigkeitsbereichs von World Athletics liegen. Darunter eine Biermeile, bei der sie in 5:43 Minuten einen neuen Weltrekord aufstellte. Nach jeder der vier Laufrunden im Stadion muss dabei so schnell wie möglich ein Bier konsumiert werden, etwas mehr als ein „Seiterl“. Laut „Let’sRun.com“ bleib Houlihan auch während der Sperre im Testingpool der USADA und wurde in dieser Zeitspanne siebenmal kontrolliert.
Spannend am Dopingfall Shelby Houlihan ist auch die Rolle, die die US-amerikanische Anti-Doping-Behörde mit ihrem in der Szene bekannten Geschäftsführer Travis Tygart einnahm. Der Mann, der das Monument Lance Armstrong zum Fallen gebracht hat. Er kritisierte den Weg der Wahrheitsfindung der AIU und der CAS vorsichtig, aber öffentlich.
In den USA war Houlihan vor ihrer Sperre ein Laufstar. Die ganz großen Erfolge konnte sie nicht feiern: Bei den Hallen-Weltmeisterschaften 2018 und bei den Weltmeisterschaften 2019 von Doha verpasste sie als Vierte knapp Edelmetall, jeweils über 1.500m. Zwei Diamond-League-Siege in der Wettkampfsaison 2018, darunter einer daheim in Eugene, zieren ihre Karriere. Viele sahen sie, mit den Olympischen Spielen von Tokio und der Heim-WM in Eugene vor der Brust, auf den Sprung ganz nach vorne. Auf dem Sprung zu den ganz großen sportlichen Errungenschaften!
Mit ihrer Leistung von 3:54,99 Minuten im WM-Finale von Doha hält sie weiterhin den US-amerikanischen Rekord im 1.500m-Lauf. Ihr US-Rekord im 5.000m-Lauf, aufgestellt im Sommer 2020 in einer Zeit von 14:23,92 Minuten, hielt drei Jahre lang, bis Alicia Monson ihn um viereinhalb Sekunden steigerte.
Houlihan ist, zumindest vorerst, nicht mehr Teil des Bowerman Track Clubs, der in den letzten Jahren einen beachtlichen Aderlass erlebte: Grant Fisher, in Paris 2024 zweifacher Medaillengewinner, und Courntey Frerichs sind zwei ehemals prominente Mitglieder des von Jerry Schumacher und Shalane Flanagan geleiteten Teams. Sie führen eine Reihe bekannter Läuferinnen und Läufer an, die dem BTC den Rücken gekehrt haben.
Wie „Runners’World“ bereits im November berichtete, lebt die 31-Jährige mit ihrem Lebensgefährten nach wie vor in Beaverton und hat Paul Doyle als neuen Manager verpflichtet. Sie berichtete von fehlender Motivation, einer Phase der Depression, die sie mit einem Sportpsychologen verarbeitete, und einer ganz guten physischen Verfassung im vergangenen Sommer. Gleichzeitig nutzte sie die Zeit für eine Ausbildung zur Beraterin für mentale Leistungsfähigkeit, eine Investition für die Zukunft.
Ihr Comeback wird begleitet von der spannenden Frage, auf welchem Niveau sie zurück auf die Wettkampfbühne kommt. Einige in sozialen Medien verfügbare Einblicke suggerieren ein sehr gutes im Training. Beim Razorback Invitational am Samstag in Fayetteville im US-Bundesstaat Arkansas tritt sie über 3.000m an. Es wird ihr erster Wettkampf seit 50 Monaten. Ein weiterer soll laut „Let’sRun.com“ eine Woche später bei einem kleineren Meeting in Boston folgen.
Unter Bezug auf Houlihans Manager berichtet „Let’sRun.com“, dass keines der beiden großen US-Hallenmeetings in Boston und in New York Houlihan einladen wollte, aus Angst, sie würde die Schlagzeilen bestimmen. Bei den US-Meisterschaften wäre sie aber im Qualifikationsfalle startberechtigt, genauso bei den Weltmeisterschaften, sofern sie die internationalen Qualifikationskriterien erfüllt und bei den nationalen Titelkämpfen unter die besten Zwei läuft.
In US-Medien wird spekuliert, dass Houlihan als Gaststarterin beim Grand Slam Track von Michael Johnson im Frühling eine Bühne bekommen könnte. Langfristig bliebe das große Ziel Olympischen Spiele 2028 von Los Angeles, zwölf Jahre nach ihrem Olympia-Debüt in Rio. Dann wäre Shelby Houlihan schon 35 Jahre alt. Spannend wird auch die Frage nach dem Ausrüster, durch die Dopingsperre endete der Kontrakt mit Nike seinerzeit. „Let’sRun.com“ berichtet, wieder unter Berufung auf den Manager, es gebe interessierte Unternehmen und solche, die aufgrund der befürchteten Negativberichterstattung abblocken. Nike soll zu den Interessenten gehören.
Der Dopingfall Shelby Houlihan ist sicherlich einer der spannendsten in der Leichtathletik der letzten Jahre. Offensiv ging die damals 27-jährige Athletin an die Öffentlichkeit und wehrte sich vehement gegen die sich anbahnende Sperre. In einer aufwändigen und wohl auf kostenintensiven Vorgehensweise, gestützt von Anwälten und ausgiebigen Recherchen, kämpfte sie bis zur letzten sportlichen Instanz, dem Obersten Internationalen Gerichtshof (CAS) in Lausanne gegen die Sperre an. Letztlich vergeblich. Doch die Argumentation des Teams der Angeklagten war substanzreich, gestützt von übereinstimmenden Zeugenaussagen und von wissenschaftlichen Studien.
Houlihan argumentierte, statt eines Burritos mit Rinderfleisch versehentlich einen mit Schweinefleisch serviert bekommen zu haben, was ihr während des Verzehrs aufgefallen sei. Die mit am Tisch sitzenden Frerichs-Schwestern konnten dies anhand der Konsistenz des Inhalts glaubhaft bestätigen. So argumentierte Houlihans Vertretung, das Nandrolon sei über das Fleisch eines nicht kastrierten Wildschweinebers in Houlihans Körper gelangt.
Dr. Strahm, der im Labor in Stockholm eine unabhängige Überprüfung durchführte, und die Paläobiologin Prof. Jahren von der Universität in Oslo stützten Houlihans These. Die Athletin brachte eine Haaranalyse ein und durchging einen Lügendetektortest mit Erfolg.
Der Leichtathletik-Weltverband (World Athletics), der von der unabhängigen Kommission der AIU vertreten wird, beharrt laut Verbands- und internationalen Sportregeln darauf, dass Athlet*innen in Eigenverantwortung sicherstellen müssen, dass keine verbotene Substanz oder kein verbotener Wirkstoff in ihren Körper gelangt. Dementsprechend liegt es nicht in der Verantwortung des klagenden Verbandes, Fahrlässigkeit oder Unwissenheit in der Argumentation zu berücksichtigen. Dies liegt in der Verantwortung der Beklagten.
Die AIU stützte sich auf das wissenschaftliche Gutachten von Professor McGlone von der Texas Tech University, laut dessen Einschätzung die Wahrscheinlichkeit, dass Fleisch eines erwachsenen Wildschweinebers in der US-amerikanischen Lebensmittelwirtschaft in die Lieferketten für Schweinefleisch kommen könne, bei einer von 1 zu 10.000 liege. Diese Einschätzung hätte trotz der erheblichen Einschränkungen während der Pandemie ihre Berechtigung.
Das Gremium der CAS-Richter in Lausanne schrieb in der schriftlichen Urteilsbekanntgabe durchaus bemerkenswert: „Das Gremium hält es für möglich, aber unwahrscheinlich, dass der Verzehr von Wildschweinfleisch zu der in der A- und B-Probe der Athletin gefundenen Urinkonzentration geführt hat.“ Ein weiteres Argument: Die Konzentration war zu hoch für Houlihans Argumentation. So listete sich eine Kette von Unwahrscheinlichkeiten aneinander und nur das summierte Glauben daran würde zur Erkenntnis führen, dass Houlihan freigesprochen gehörte.
Obwohl Houlihan als „glaubwürdige Zeugin“ eingestuft wurde, sei es ihr nicht gelungen, ausreichend objektive Beweise vorzulegen, die die Konzentration des verbotenen Wirkstoffs in ihrer Urinprobe erklärt hätten. Daher sei das Vergehen als vorsätzlich anzusehen. So steht es in der Urteilsconclusio. Das Schweizer Bundesgericht, welches für Houlihan den letzten Ausweg bot, sah keine Veranlassung, das CAS-Urteil in Frage zu stellen. Im Sommer 2021 war der Fall geschlossen.
Autor: Thomas Kofler
Bild: © Unsplash / Chau Cedric (Symbolbild)