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Mit einer astronomischen Leistung hat Tamirat Tola am Samstagmorgen in Paris den Olympischen Marathon gewonnen und trotz der wohl schwierigsten Marathonstrecke der Olympia-Geschichte den legendären Olympischen Rekord von Samuel Wanjiru unterboten. Nach einer Galavorstellung im Alleingang jubelte der 32-Jährige gemeinsam mit dem Belgier Bashir Abdi und dem Kenianer Benson Kipruto vom Siegerfoto. Der ungewöhnliche, hochspannende und stimmungsvolle Marathon produzierte aber nicht nur strahlende Sieger, bestechende Endzeiten und überraschende Auftritte, sondern auch etliche große Enttäuschungen. Durch die Hintertür verließ Eliud Kipchoge die Olympische Bühne, nachdem er förmlich vorgeführt wurde.
Man wähle einen denkbar schwierigen Marathonkurs – 436 Höhenmeter bergan, 438 Höhenmeter bergab, teilweise in beträchtlichen Rampen. Man führe Volksfeststimmung bei und lobe den größtmöglichen Prestigeerfolg, die Olympische Goldmedaille, aus. Die Besten der Besten stehen am Start. Herauskommt kein Belauern, keine taktischen Spielchen, kein Abwarten. Der Olympische Marathon von Paris war ein Rennen auf physischem Anschlag ab dem ersten Schritt bergan.
Zeremonienmeister der Show war einer, der eigentlich gar nicht dabei sein sollte: Tamirat Tola stürmte mit einem eindrucksvollen Frontrun, rund die Hälfte der Distanz als Solist führend, nicht nur zum Sieg, sondern fügte diesem eine unglaubliche Zeit zu: 2:06:26 Stunden, sechs Sekunden schneller als Samuel Wanjiru im unvergessenen Olympischen Marathon von Peking 2008, dessen Lauf bis heute als einer der besten in dieser Disziplin in Erinnerung bleibt. Tolas Marathon in Paris, kombiniert mit etlichen Leistungen nicht weit dahinter, verdienen sich diese Einstufung auch.
Acht Jahre, nachdem Tamirat Tola im Olympiastadion von Rio de Janeiro Bronze im 10.000m-Lauf gewonnen hat, zwei Jahre nach seinem WM-Titel von Eugene in Weltmeisterschaftsrekord, neun Monate nach seinem eindrucksvollen Streckenrekord beim New York City Marathon: die Karriere des Äthiopiers hat sich prächtig entwickelt und gestern ihren Höhepunkt gefunden. „Ich bin deswegen damals in den Marathon gewechselt, weil ich gemerkt habe, dass ich auf der Bahn keine Goldmedaille gewinnen kann“, gab er nach dem Rennen zu Protokoll (vgl. Olympics.com).
Sein Erfolg ist Balsam auf die geschundene Seele seiner Landsleute, die bisher bei den Olympischen Wettkämpfen in Paris ihr Waterloo erlebt haben – Tolas Gold ist die erste Goldmedaille überhaupt bei den Spielen 2024 und die erst dritte Medaille, alle in der Leichtathletik. Damit setzte Äthiopien die schlechte Bilanz von Tokio 2021 fort, ohne Tola wäre die ostafrikanische Läuferhochburg aber (vielleicht) erstmals seit 1972 ohne Goldmedaille geblieben (1976, 1984 und 1998 fehlte Äthiopien wegen Boykott). „Die Stimmung in unserem Lager ist wirklich schlecht“, erzählte Tola. „Vielleicht ist mein Erfolg eine späte Wende.“
24 Jahre nach Gezahegne Abera in Sydney hat Äthiopien wieder Olympisches Marathongold bei den Männern gewonnen. Die Verbandsfunktionäre brauchen sich nicht auf die Schultern zu klopfen, sie können bestenfalls im stillen Kämmerlein ihre Erleichterung äußern. Sie hatten entschieden, Tola trotz seiner Show in New York nicht für das Olympische Team zu nominieren. Nur weil Sisay Lemma, am Papier der Gold-Favorit, mit einer Verletzung passen musste, rutschte der neue Olympiasieger überhaupt ins Feld. Er war als Reserveläufer voll in Vorbereitung, meinte Tola nachher. Dennoch verdient diese Vorbereitung Respekt und wurde u.a. von Kenenisa Bekele in hohen Tönen gelobt.
Nach den 42,195 Kilometern von Paris nach Versailles und retour ist eines sicher: Tamirat Tola war mit Abstand der beste Marathonläufer des Tages und daher verdienter Champion. „Die letzten Kilometer war ich so glücklich. Ich wusste, dass niemand mich einholen könnte. Ich wusste, dass ich gleich meinen größten Traum realisieren könnte. Und ich habe an meinen Freund und Trainingspartner Sisay Lemma gedacht, dessen Verletzung mir diese Chance gegeben hat“, wird der Äthiopier auf der Website der Olympischen Spiele zitiert. Einen Tag nach seinem Triumph feierte er seinen 33. Geburtstag.
In die Jubelhymnen ein reihten sich Bashir Abdi, der drei Jahre nach Olympia-Bronze in Sapporo dieses Mal in 2:06:47 Stunden Silber holte, und Benson Kipruto, der als Bronzemedaillengewinner in 2:07:00 Stunden die kenianische Ehre rettete. „Es war ein hammerharter Kurs. Ich habe alles dafür gegeben, so wenig Energie wie möglich zu verbrauchen und so intelligent wie möglich zu laufen. Ich bin sehr, sehr glücklich“, wird der 35-jährige Europarekordhalter auf der Website von World Athletics zitiert. „Es war der härteste Marathon, den ich je gelaufen bin!“ Der kenianische Sieger des diesjährigen Tokio Marathon widmete seinen Medaillengewinn den im Februar tödlich verunglückten Marathon-Weltrekordläufer Kelvin Kiptum. „Im Training habe ich zuerst den Kopf trainiert, dann die Beine und dann das Herz. Es war der härteste Marathon meines Lebens“, so der 34-Jährige. Es mag kein Zufall sein, dass drei Mitt-Dreißiger am Ende dieser schwierigen Herausforderung die Medaillen um den Hals gehängt bekamen.
Alter: 33
Nationalität: Äthiopien
🥇 Olympiasieger 2024 im Marathon Olympischer Rekord
🥇 Weltmeister 2022 im Marathon
🥈 WM-Silber 2017 im Marathon
🥉 Olympia-Bronze 2016 im 10.000m-Lauf
🏆 Sieger New York City Marathon 2023 (Streckenrekord)
🏃 pers. Bestleistung im Marathon: 2:03:39 Stunden (Amsterdam 2021)
Die Kenianer hatten die beste Mannschaft am Start, doch London-Sieger Alexander Mutiso verpasste die Top-20, Eliud Kipchoge präsentierte sich, anstatt um das historische dritte Marathon-Gold in Serie zu kämpfen, bemerkenswert weit entfernt von einer Topform und war früh weit abgehängt, augenscheinlich beeinträchtigt von Schmerzen. Der eine Kamera-Schnappschuss, der zeigte, wie der Schweizer Tadesse Abraham, der wahrlich das Rennen vorsichtigst möglich angegangen war, an Kipchoge vorbeilief und sich mit einem mitleidigen Blick zu ihm hinüber förmlich wunderte, sprach Bände.
Abraham sollte auf den letzten Metern auch die zweite große Legende noch überholen, auch Kenenisa Bekele hatte keine Chance. „Die Leute haben über Kipchoge und mich gesprochen. Aber, wie Sie sehen, heute bestimmte die jüngere Generation das Rennen. Sie waren deutlich stärker als wir“, sagte der 42-Jährige gegenüber World Athletics. Sätze, die nach Abschied klingen. Bei seiner Rückkehr zu Olympischen Spielen nach zwölf Jahren kämpfte sich der dreifache Olympiasieger (zweimal 10.000m, einmal 5.000m) mit muskulären Problemen ins Ziel.
Dafür imponierten andere, die als Außenseiter gehandelt wurden. Der Brite Emile Cairess lief auf Platz vier, am Ende fehlte eine knappe halbe Minute auf die große Sensation. Der Japaner Akira Akasaki, in der globalen Szene ein No-Name, führte eine Zeit lang und wurde in klarer persönlicher Bestleistung von 2:07:32 Stunden Sechster. Der WM-Vierte von Budapest aus Lesotho, Tebello Ramakongoana, verbesserte seinen Landesrekord auf 2:07:58 Stunden. Auf diesem Kurs reüssierten nicht nur die Fittesten, sondern die mental Stärksten, die bereit waren, über ihre Grenzen hinauszugehen. Auf diese Weise kamen auch die beiden Amerikaner Conner Mantz und Clayton Young in die Top-Ten. Mitten in den Hügelpassagen, während eines Zusammenschlusses zweier Gruppen, klatschten die beiden Trainingspartner ein, ganz nach dem Motto: „Hey, du auch so gut dabei!“
Auf diese Weise verpasste der Südafrikaner Elroy Gelant nur knapp die Top-Ten. Das ist deswegen bedeutend, weil der 37-Jährige das Olympia-Limit gar nicht erreicht hatte und seinen Startplatz über die Weltrangliste beinahe aufgrund der Ansammlung der Universality Places verloren hätte. Nur ein Rekurs einiger mächtiger Verbände brachte ihn an den Start. Auf diese Weise zeigte Europameister Richard Ringer ein taktisch perfektes Rennen und startete von Rennmitte eine eindrucksvolle Aufholjagd, die ihn bis auf Position zwölf brachte. Eine halbe Minute später überquerte sein Landsmann Samuel Fitwi die Ziellinie, während der deutsche Rekordhalter Amanal Petros, über dessen Medaillenchancen in Deutschland noch spekuliert wurde, zu den prominent Geschlagenen gehörte. Er stieg aus, nachdem er bereits viele Minuten hinter der Spitze lief.
Kein geringerer als die äthiopische Lauflegende Haile Gebrselassie eröffnete mit dem üblichen Ritual der drei Stockschläge in den Boden das Startprozedere. Um Punkt acht Uhr ging es am Hotel de Ville los, bei 18°C schien die Sonne gnadenlos vom Himmel. Aber die Gebäude der Stadt und die Passagen im Wald vor der Stadt versprachen immerhin Schatten. Die Hitze sollte also, die Jahreszeit berücksichtigend, keine große Rolle spielen.
Nach einer kurzen gemütlichen Sortierungsphase, in der der holländische Medaillenkandidat Abdi Nageeye kurz stehen bleiben musste, um augenscheinlich einen Stein aus der Sohle herauszustemmen, nahm das Rennen Fahrt auf. Nach einer kurzen unruhigen Phase brach der Italiener Eyob Faniel aus dem Feld aus und timte seinen Angriff so, dass der nie eine halbe Minute große Vorsprung reichte, dass er nach dem langen Anstieg hinauf zur Halbmarathon-Zwischenzeit noch in der Spitzengruppe war. Kraft gekostet hatte die Einlage trotzdem, am Ende blieb vom Versuch Rang 43 übrig.
Denn beim längeren, aber nicht übertrieben steilen Anstieg zogen Tamirat Tola und Bashir Abdi, also jene, die am Ende Gold und Silber holten, mächtig am Tempo an. Obwohl fast komplett auf ansteigender Strecke absolviert, war die 5km-Teilpassage zwischen 15 und 20 15:40 Minuten schnell – unglaublich! Diese enorme Kraftanstrengung brachte Opfer. Erst Abraham, der im März in Barcelona Schweizer Rekord von 2:05:01 Stunden gelaufen ist, dann Kipchoge. Fast hilflos trottete der Kenianer in einem Umfeld, das er, überspitzt gesagt, normalerweise erst frisch geduscht im Zielraum empfangen würde, umher.
Bereits beim Halbmarathon hatte die Legende Kratzer, Kipchoge, der sich mehrfach an die Hüfte griff, lief über eine Minute hinter der Spitze auf Platz 58. Es wurde noch schlimmer, denn in der folgenden konstanten Bergabpassage, die vorne die bis dato schnellste Rennphase brachte, verlor der zweifache Olympiasieger weiter deutlich an Zeit und sammelte weiter Rückstand ein. Nach den diffizilsten Hügelpassagen war er bis auf acht Minuten angewachsen. Grund genug für den 39-Jährigen, um nach rund 31 Kilometern das Handtuch zu schmeißen. Zu diesem Zeitpunkt jenseits der Top-70. Nicht besser erging es Gabriel Geay, ein 2:03-Läufer, und Petros – beide gaben nicht weit vor Kipchoge liegend ebenfalls auf.
In sozialen Netzwerk kursierende Videos zeigten Kipchoge, wie er seine Schuhe und Laufsocken den Fans am Streckenrekord schenkte, ehe er in den „Besenwagen“ stieg. Wer weiß, ob und wann der zweifache Olympiasieger, zweifache Weltrekordläufer und einzige Läufer mit einer unter zwei Stunden absolvierten Marathon-Distanz (Wien 2019) wieder auf einer Wettkampfbühne zu sehen sein wird. Nie zuvor in seiner langen Karriere hatte Kipchoge jemals einen Marathon nicht beendet.
An der Spitze setzte sich der unheimliche Rhythmus fort, als es in die steilen Rampen auf dem Weg zurück nach Paris rund um Kilometer 30 ging. Sowohl bergauf, als auch bergab. In mehreren Reihen Spalier stehend, Fahnen schwenkend und laut schreiend sorgte das Publikum vor Tour-de-France-Atmosphäre. Die beflügelte Tamirat Tola. In der Bergabpassage hatte sich die Spitzengruppe wieder zusammengefunden, doch kaum ging es bergauf, übernahm der Äthiopier die Führung von Akasaki und beschleunigte. Trotz der schwierigsten Kilometer unter den Sohlen lautete die Teilzeit zwischen Kilometer 25 und Kilometer 30 15:03 Minuten für Tola. Dann ging es zwei Kilometer recht steil hinunter, Tola brauchte bis Kilometer 35 nur 14:02 Minuten, dahinter lief der Kenianer Benson Kipruto einen 5km-Split von 13:56 Minuten.
Doch der Äthiopier hielt seinen Vorsprung von rund 20 Sekunden, den er sich in den schwierigsten Minuten erkämpft hat, nicht nur, sondern baute ihn auf den flachen Kilometern entlang der Seine, mit Minuten langem Blick auf den Eiffelturm, sogar noch aus. Kilometersplits von deutlich unter drei Minuten täuschten darüber hinweg, dass dieser Marathon so ein bemerkenswertes Profil hatte. Eine bemerkenswerte Kulisse mit enormer Stimmung und hohem Zuschaueraufkommen speziell in der Schlussphase spornten an. Nach 2:06:26 Stunden durchbrach der beeindruckende Sieger das Zielband und krönte sich zum verdienten Olympiasieger an einem Marathon-Tag, der in die Geschichte einging.
Der Kampf um die weiteren Medaillen wurde zu einem abwechslungsreichen Ausscheidungsrennen. Kurze Zeit sorgte Sevilla-Sieger Geleta für eine äthiopische Doppelführung. Davor war der Brite Emile Cairess sensationell als Zweiter in das längere Bergabstück gegangen. Später hielt sich Alphone Felix Simbu, der schon in Rio und Sapporo in den Top-Ten war, auf dem zweiten Platz. Doch der Läufer aus Tansania, auch schon beim Marathon in Wien zu Gast, hatte sich übernommen und büßte auf den letzten Kilometern dafür, am Ende blieb Platz 17. Auch für Cairess war das Rennen einfach zu schnell, er musste ein Quartett ziehen lassen. Aus diesem fiel später Akasaki zurück, der Japaner war mit einer persönlichen Bestleistung von 2:09:01 Stunden ins Rennen gegangen und nur qualifiziert, weil er bei den japanischen Ausscheidungen Zweiter war und damit einen Quotenplatz des Verbandes übernahm. Er wurde am Ende glänzender Sechster, Cairess nicht weniger glänzend Vierter.
Um die Medaillen kämpften Bashir Abdi, der sich zuletzt mit einer Stressfraktur herumplagen musste und daher eine verkürzte Vorbereitungszeit hatte, Deresa Geleta, der seine nicht unumstrittene Nominierung mehr als rechtfertigite, und Benson Kipruto. Bei Kilometer 39 lancierte der Belgier die entscheidende Attacke. Der Äthiopier fiel zurück und auch der Kenianer konnte nicht mehr folgen. Die Positionen waren nach wilden und ständigen Positionswechseln über fast 20 Kilometer nun endgültig eingenommen. Als Letzter erreichte Ser-Od Bat-Ochir das Ziel. Der 42-jährige Mongole hat seinen sechsten Olympischen Marathon in Folge gefinisht, ein Rekord. Auch seine Miene zeigte: Es war eine der härtesten sportlichen Aufgaben seiner Laufbahn.
Autor: Thomas Kofler
Titelbild: © Mattia Ozbot for World Athletics
Bilder: © Christel Saneh for World Athletics / Mattia Ozbot for World Athletics
Stimmen: vgl. olympics.com