Als vor neun Jahren eine Läuferin aus Südafrika mit einer Wunderzeit bei den Junioren-Afrikameisterschaften im Gepäck die Weltbühne der Leichtathletik im Rahmen der Leichtathletik-Weltmeisterschaften von Berlin betrat, stürzte sie die Leichtathletik-Welt binnen 1:55,45 Minuten in eine Krise. Der Leichtathletik-Weltverband (IAAF) war zu diesem Zeitpunkt nicht einmal annähernd auf eine Transgender-Diskussion vorbereitet, als die sechstplatzierte Italienerin Elisa Cusma von einem „Mann“ im 800m-Finale der Frauen sprach. Es folgte ein unreifes Agieren auf Funktionärsebene, ein aufgezwungener Geschlechter-Test, der in der Öffentlichkeit diskutiert wurde und den Beginn einer polarisierenden Debatte voller sportlicher Ungerechtigkeit darstellt, die bis heute nach einer Lösung lechzt. Die nackte Statistik sagt: Caster Semenya, eine damals 18-jährige Südafrikanerin, gewann nicht nur den WM-Titel 2009, sondern auch jenen 2017 in London und die Olympische Goldmedaille 2016 in Rio – stets im 800m-Lauf. Die Goldmedaillen von Daegu (2011, WM) und London (2012, Olympia) fielen ihr aufgrund nachträglicher Doping-Disqualifikationen in den Schoß. Ihr zentrales Erfolgsgeheimnis: Ein biologisch bedingter Überschuss an Testosteron im Körper, der die Grenze der gültigen Definition des weiblichen Geschlechts übersteigt. Die Konkurrentinnen protestieren mittlerweile müde und entnervt, aber fortwährend. Sie reklamieren ihre biologisch bedingte Chancenlosigkeit.
Die Konkurrentinnen reklamieren ihre biologisch bedingte Chancenlosigkeit
Semenyas erstaunliche Erfolgsserie sollte eigentlich mit dem 1. November 2018 ein Ende finden. Denn der Leichtathletik-Weltverband (IAAF) wollte eine neue Regelung zur Definition der weiblichen Leistungsklasse in einigen leichtathletischen Disziplinen (darunter die Mittelstrecken) mittels einer Testosteron-Obergrenze einführen, die Transgender-Athletinnen künstlich unterbieten müssen. Eine weniger detailreiche, aber ähnliche Regelung mit einer verpflichteten Hormontherapie gab es bereits vor einigen Jahren. Auf Protest der indischen Sprinterin Dutee Chand, ebenfalls eine hyperandrogene Athletin, kippte der Oberste Internationale Sportgerichtshof (CAS) in Lausanne diese Regelung Ende 2015. Semenya, die auf Leistungsebene in der Versenkung verschwunden war, mutierte über Nacht zur Seriensiegerin, die die Szene seither nach Belieben dominiert.
Auf der fieberhaften Suche nach einer neuen Regelung verstrich eine enorme Zeitspanne. Die IAAF gab eine umfangreiche Studie in Auftrag und legte im ersten Blick überzeugende Zahlen vor. 1,8% Leistungsvorteil genießt Semenya gegenüber Mitstreiterinnen mit einem für eine weibliche Person anerkannt üblichen Testosteron-Wert – im Sport Welten und für die IAAF Beweis genug, schnellst möglich handeln zu müssen. Doch das Konzept ist trotz der langen Bedenkzeit und des Einsatzes einer Expertengruppe brüchig. Denn anerkannte Fachleute kritisierten diese Studie scharf und unterstellten den beteiligten Forschern fehlerhaften Einsatz von Daten. Sie seien zwar klare Befürworter einer neuen Regelung, fordern aber wissenschaftliche Korrektheit als Fundament eines neuen Regelwerks.
Die Lösung dieser Diskussion ist eines der Hauptziele Sebastian Coes
Eine weitere Zurückweisung durch die CAS-Richter kann sich die IAAF in ihrer derzeitigen Zusammenstellung kaum leisten, was Sebastian Coe und seine ambitionierten Ankündigungen in Bedrängnis bringt. Die rechtlich haltbare Lösung dieser Diskussion ist eines der Hauptziele seiner laufenden Amtszeit. In der Tat ist Semenya, in ihrer Heimat ein Superstar und ein inspirierendes Vorbild für Millionen Frauen, mit dem südafrikanischen Verband im Rücken bereits vor den CAS gezogen. Sie fürchtet um ihre bisherige Stellung als erfolgreiche Sportlerin und argumentiert, dass diese gesellschaftspolitisch heikle Debatte auf dem Rücken ihrer Persönlichkeitsrechte wie Freiheit und Gleichheit ausgetragen wird. Außerdem ortet sie durch die Auswahl einiger leichtathletischen Disziplinen für die Studie, die alle der bevorzugten Laufdistanzen der 28-Jährigen umfassen, Willkür gegen sie. Die Begriffe Diskriminierung und Rassismus wurden aus anderen Kommunikationskanälen beigemischt. Semenya argumentiert dagegen mit kräftiger Unterstützung nicht nur aus ihrer Heimat, dass Chancengleichheit im Sport auf vielen Ebenen nicht gegeben ist (z.B. Fördermittel, Fachwissen, andere körperliche, auch biologische, und mentale Voraussetzungen, Anm. d. A.) – eine These, die auf Teilverständnis stößt.
Semenya argumentiert, dass Chancengleichheit im Sport auf vielen Ebenen nicht gegeben ist
Die IAAF sucht das Gespräch mit dem südafrikanischen Verband, begibt sich in eine abwartende Pose und kündigt eine neue Regelung für Frühjahr 2019 an, nachdem im Februar oder März in Lausanne ein Urteilsspruch fallen soll. Das Ziel bleibt, trotz des zögerlichen Vorgehens, mehr Fairness und Schutz der weiblichen Athletinnen. Dass der Mittelstreckenlauf eine der dringlichen Disziplinen der Leichtathletik in der Hyperandrogenismus-Debatte ist, ist nicht nur an Semenya festzuhalten. Die grundlegende Brisanz bringt die Tatsache mit, dass die fehlende Chancengleichheit hier nicht körperliche (z.B. hochgewachsene Menschen sind im Basketball chancenreicher) oder biologische Merkmale (z.B. manche Menschen haben bessere Voraussetzungen für Ausdauersport) Gegenstand der Diskussion sind. Es handelt sich um einen hormonellen Einfluss, der die generelle Chancengleichheit im Frauensport aus den Angeln hebt – unabhängig der Anforderung. Ein Vergleich zum Doping ist in diesem Kontext schrecklich unpassend, im Ausmaß der Wirkung finden sich jedoch Parallelen. Und in der wünschenswerten Haltung dagegen: Der Sport muss so fair wie möglich sein, um seinen Ansprüchen zu genügen!
Ein hormoneller Einfluss hebt die generelle Chancengleichheit im Frauensport aus den Angeln
Der Sport tritt als Akteur in einer gesellschaftsumfassenden Diskussion auf, braucht aber eine individuell auf ihn zugeschnittene Lösung. Im Gegensatz zu vergangenen Jahrzehnten, als es ebenfalls bereits Leichtathletinnen mit biologisch bedingtem Testosteron-Überschuss gab, ist heute eine angebrachte Sensibilität vorhanden. Der Kampf für die Rechtegleichheit für alle unabhängig Herkunft und Geschlecht ist eine bedeutende Entwicklung für die moderne Gesellschaft. Im Sport kollidieren aber zwei wesentliche Prinzipien: Jenes des Rechts auf Freiheit und Chancengleichheit im gesellschaftlichen Verständnis stellt sich gegen das Recht der Chancengleichheit im sportlichen Wettbewerb, der heute durch Werbung und Sponsoring eine enorme wirtschaftliche Bedeutung erhalten hat. Eine kantige Nahtstelle, die die IAAF zu schließen versucht. Eine Ideallösung ist unmöglich, es gilt für den Frauensport innerhalb einer praktikablen Lösung die geringsten Opfer zu bringen. Das intendierte Opfer ist beträchtlich: Man würde hyperandrogene Frauen zu einer Anpassung zwingen, die nur durch einen massiven, künstlichen Eingriff in ihre Genetik realisierbar ist – ohne medizinische Notwendigkeit und mit offenen Fragen der Langzeitfolgen für die Gesundheit. Der Umkehrschluss wäre jedoch ungleich drastischer: ein indirekter Zwang zu Hormondoping für die Chancengleichheit beim Ausüben der eigenen Talente und beim Streben nach persönlichen Träumen. Ebenfalls ohne medizinische Notwendigkeit, mit erwartbar negativen Langzeitfolgen für die Gesundheit und einer kaum wünschenswerten Entwicklung des Frauensports weg von der Weiblichkeit.
Im Sport kollidieren zwei Grundprinzipien: das Recht der Chancengleichheit im gesellschaftlichen Verständnis und das Recht der Chancengleichheit im sportlichen Wettbewerb
Der Frauensport beruft sich auf eine Pionierrolle im Kampf der Gleichberechtigung der Geschlechter und eine Tradition, die Frauen es erlaubt, in einer definierten Leistungsklasse mit Fairness nach der Besten und Schnellsten zu streben. Die variierenden genetischen Voraussetzungen der teilnehmenden Sportlerinnen erfordern nun eine Adaption der Definition, um das Prinzip der Fairness im Sport nachzuschärfen oder gar wiederherzustellen. Dass diese Debatte nur die Chancengleichheit des Frauensports betrifft, liegt einzig und allein der von der Natur vorgegebenen Prämisse, dass die überwiegende Mehrheit männlicher Körpermerkmale vorteilhaft für Leistungssport ist. Wäre dem nicht so, wäre die grundlegende Unterscheidung zwischen der männlichen und weiblichen Leistungsklasse überflüssig. Tatsächlich ist diese Unterscheidung aber überlebenswichtig für den Frauensport. Es liegt der Schluss nahe, dass die Natur sportliche Vergleiche zwischen Menschen jeglichen Geschlechts nicht vorgesehen hat.
Einige sehen in der Definition einer dritten Leistungsklasse die Lösung. Ein Lösungsansatz, der auf den gesellschaftspolitischen Zeitgeist in der westlichen Welt trifft, der Offenheit ausstrahlt. Ein Beispiel ist die Einführung der Ehe für alle in Deutschland und Österreich. Ein Lösungsansatz, der allerdings einige Probleme mit sich bringen könnte. Ein negativ konnotiertes Abdriften der Athletinnen in eine Sonderklasse könnte eine mögliche, ungewünschte Folge sein. Und welcher Gradmesser garantiert absolute Chancengleichheit innerhalb dieser dritten Leistungsklasse?
Einige sehen in der Definition einer dritten Leistungsklasse die Lösung
Intersex, Transgender, Hyperandrogenismus – egal welches dieser Synonyme verwendet wird, in der Leichtathletik kommen diese Begriffe deutlich häufiger vor als in anderen Sportarten. Das liegt nicht daran, dass Athletinnen mit erhöhtem Testosteron-Wert ausschließlich Leichtathletik betreiben. Die Leichtathletik, allen voran der Laufsport, hat im Laufe der Geschichte im Kampf um die Gleichstellung von Männersport und Frauensport eine Vorreiterrolle eingenommen und im organisatorischen Rahmen diese Gleichstellung als eine von nur wenigen Sportarten erreicht. Das gilt freilich bei der Gleichstellung in der öffentlichen Aufmerksamkeit und der Bedeutung in der Werbewelt noch nicht. Dennoch: Andere, auch weltumspannende Sportarten, kämpfen noch mit grundlegenden Versäumnissen in der Gleichstellung von Frauen- und Männersport. Ihnen steht eine Transgender-Diskussion erst bevor. Sie können dann vermutlich auf die Entscheidung des Obersten Internationalen Sportgerichtshof aufbauen, die auch für die IAAF und damit die Leichtathletik verbindlich sein wird.