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„Die Träume sind bei allen da“, aber wie läuft es in der Realität? RunUp nimmt Deutschlands Marathonlauf unter die Lupe. Denn nach den Olympischen Spielen ist vor den Olympischen Spielen.
„Die Träume sind bei allen da“, aber wie läuft es in der Realität? RunUp nimmt Deutschlands Marathonlauf unter die Lupe. Denn nach den Olympischen Spielen ist vor den Olympischen Spielen.
Von Rudolf Scharping, dem ehemaligen deutschen Bundesverteidigungsminister und Radsport-Funktionär, ist folgendes Zitat überliefert: „Die Zukunft erkennt man nicht im Rückspiegel.“ Was in dieser Ausschließlichkeit natürlich nicht stimmt, denn um Dinge besser zu machen, ist eine Analyse des Geschehenen durchaus hilfreich.
Blicken wir also zurück nach Rio, zu den Olympischen Spielen 2016 und den deutschen Teilnehmern im Marathon. Die beste Platzierung erreichte Anja Scherl (44./2:37:23 Stunden), mit den Notierungen 81 und 82 liefen Anna und Lisa Hahner ins Ziel. Ihre Zeiten: 2:45:32 und 2:45:33.
Am Start waren zudem zwei Männer, Philipp Pflieger (2:18:56/55.) und Julian Flügel (2:20:47/71.). Die Weltbesten waren erwartungsgemäß weit weg und die schnellsten Europäer Volha Mazuronak (Weißrussland/2:24:48) sowie Tadesse Abraham (Schweiz/2:11:42) ein gutes Stück voraus. Pflieger und Flügel, der für den verletzten 23-jährigen Newcomer Hendrik Pfeiffer nachrückte, waren im Vorfeld gesundheitlich nicht im Gleichgewicht. „Mit diesen Vorgeschichten“ könne man die Leistungen akzeptieren, sagt Marathon-Bundestrainerin Katrin Dörre-Heinig.
Auch deshalb spielen die medial omnipräsenten Twins aus ihrer Sicht in den Planungen für die WM 2017 in London, die EM 2018 in Berlin und die Spiele 2020 in Tokio derzeit keine erwähnenswerte Rolle. Es gilt das Credo: Sie können sich empfehlen. Als deutscher Vorläufer für Tokio gilt der 35-jährige Rekordhalter Arne Gabius (PB: 2:08:33), chancenreiche Kandidaten sind der 29-jährige Pflieger (PB: 2:12:50), der ein Jahr ältere Flügel (PB: 2:13:57) und Pfeiffer (PB: 2:13:09). „Die Träume sind bei allen da“, sagt Dörre-Heinig und inkludiert auch den früheren Hindernisläufer Steffen Uliczka, dem in Berlin ein recht flottes Debüt geglückt ist (2:15:02).
Fate Tola auf dem Weg zu ihrem zweiten Platz beim Frankfurt Marathon.
Bei den Frauen sind es – die Hahners inbegriffen – sechs Kandidatinnen. Die 29-jährige, gebürtige Äthiopierin Fate Tola, die zuletzt in Frankfurt mit 2:25:42 Stunden in den Bereich ihrer Bestzeit lief, Scherl (PB: 2:27:50), die 27-jährige Heinig-Tochter Katharina (PB: 2:28:34 in Berlin) sowie die 33-jährige Mona Stockhecke (2:31:30). Sabrina Mockenhaupt, bereits 36 Jahre alt und mit einer Bestzeit von 2:26:21 Stunden sechstschnellste deutsche Marathonläuferin aller Zeiten, gehört dem Langstrecken- und nicht dem Marathonkader an.
Noch ist offen, inwieweit im deutschen Spitzensport der Rückschritt bei den Rio-Medaillen (insgesamt 42, 2012 in London waren es 44) strukturelle Änderungen nach sich ziehen wird. In der Leistungssportreform ist vorgesehen, die Zahl der Olympiastützpunkte zu reduzieren und stattdessen einige Top-Stützpunkte aufzubauen. Mehr ist bislang nicht durchgesickert. Und es dürfte auch die Leichtathletik treffen. Denn mit insgesamt nur drei Medaillen war der Abschwung gegenüber achtmal Edelmetall in London 2012 eklatant. Sicher ist: Vergleichsweise leicht erreichbare olympische Marathon-Normen wie in Rio (2:14:00/2:30:30) dürfte es nicht mehr geben.
Die erfolgreichste deutsche Marathonläuferin gewann unter anderem dreimal in London (1992 bis 1994), war Olympiadritte (1988), -fünfte (1992) und -vierte (1996). Ihre persönliche Bestzeit: 2:24:35 Stunden. Die heute 55-Jährige Dörre-Heinig muss als Bundestrainerin strukturieren und moderieren. Die Zeiten haben sich seit ihrer aktiven Karriere, die bis 2000 währte, längst geändert.
Das hochklassige Läuferpotential in Afrika scheint unerschöpflich, auch Osteuropa wird immer schneller. Sie weiß das und muss in einem Land, das in Waldemar Cierpinski einen Doppel-Olympiasieger (1976/1980) und in Stephan Freigang einen Olympiadritten hervorgebracht hat (1992), mit extrem divergierenden Sportlerprofilen klarkommen.
Als Laufprofis gelten nur Gabius und Pflieger, Fate Tola und Katharina Heinig. Flügel hat wie Scherl und Stockhecke einen anspruchsvollen Vollzeitjob. In diesem Umfeld muss Dörre-Heinig versuchen, das Bestmögliche auszuloten. Dabei lautet ihre Maxime: „Das Wichtigste ist, dass der Athlet ausreichend Entlastung und Erholung hat.“ Als sie selbst merkte, dass ihr die Doppelbelastung zu viel wurde, brach sie ihr Studium nach dem Physikum ab.
Die Bundestrainerin hat noch keine Budgetzusage des Verbandes für die nächste Saison, aber sie plant mit zwei vierwöchigen Höhentrainingslagern in Kenia (Januar, März), damit eine Höhenkette entsteht, sowie mit einer unmittelbaren Wettkampfvorbereitung im Sommer in der Schweiz (St. Moritz oder Davos). Die Termine stehen, doch von den insgesamt 17 Marathon-Kadermitgliedern (10 Frauen, 7 Männer) gibt es für den ersten Kenia-Aufenthalt erst zwei konkrete Zusagen: von Gabius, der mit seinem vorjährigen Rekordlauf „eine Lawine“ losgetreten habe, und von ihrer Tochter.
Einige Spitzenläufer müssen erst ihre Jobsituation klären (Flügel) oder gesundheitlich auf die Beine kommen (Pfeiffer nach einer Achillessehnenoperation). Die Lage ist bisweilen schwierig im Läuferland Deutschland, das im weiblichen Spitzenbereich Anschluss an die besten Europas gefunden hat. „Mit den Plätzen zwei, vier und sechs sehen wir richtig gut aus“, sagt die Bundestrainerin mit Blick auf die Europarangliste des Jahres 2016. Ihr Ziel für die nächsten Jahre: etwa zehn leistungsfähige Marathonfrauen – „und dann ein richtiger Ausrutscher nach oben“. Bei den Männern ist das Fundament wesentlich dünner. „Brechen zwei weg, wie Gabius und Pfeiffer in diesem Jahr, haben wir ein Problem.“
Deutschland, das Dorado im Marathon-Breitensport, braucht Revolutionen in kleinen Dosierungen, um bei der männlichen Elite wieder Kontakt zu bekommen. Dazu gehört, dass Pacemaker-Rennen kritisch hinterfragt werden. „Es gibt bei uns Läufer, die können alleine keinen Marathon laufen und damit nicht reagieren“, sagt Dörre-Heinig. Da fährt der Trainer oder der Freund auf dem Fahrrad nebenher, bisweilen gibt es auch Kleingruppen mit bis zu einem Dutzend „Mitläufern“. Das Ziel: persönliche Bestzeiten. Das Manko: keine reale Wettkampfsituation.
Das Gegenbeispiel war Scherl im Frühjahr in Hamburg – und Katharina Heinig wird es beim nächsten Berlin-Halbmarathon genauso machen. „Ich finde es wichtig, dass sie es ohne Tempomacher schafft“, bekräftigt ihre Mutter.
Autor: Uwe Martin
Bilder: © Pexels | SIP