Josh Kerr ist neuer Weltmeister im 1.500m-Lauf. Das ist angesichts der Überlegenheit Jakob Ingebrigtsens in letzter Zeit eine Überraschung, vielleicht aber keine absolute Sensation. Kerr ist der dritte britische Weltmeister über die „metrische Meile“ nach Steve Cram 1983 bei der WM-Premiere in Helsinki und nach Jake Wightman vor einem Jahr. Wie im Falle von Wightman, der im Vorjahr mit einer persönlichen Bestleistung Ingebrigtsen besiegte, kämpfte auch der Olympia-Bronzemedaillengewinner von Tokio 2021, damals hinter dem Norweger und Timothy Cheruiyot, der in Budapest das Halbfinale nicht überstand, den Norweger in einem spannenden Endspurt nieder. Weil seine Renntaktik perfekt aufging.
„Ich habe ihn!“
So erwischte er den klaren Favoriten auf jener Teilstrecke, auf der er der restlichen Welt nicht haushoch überlegen ist: die Endgeschwindigkeit auf den letzten 200 Metern. Und dementsprechend entgeistert ging Ingebrigtsen nach dem Wettkampf, innerlich sichtlich aufgeregt, die Bahn ein paar Schritte auf und ab. Die ähnliche Rennstrategie wie im letzten Jahr war bei Weltmeisterschaften gescheitert, weil er ohne Tempomacher (wie bei Diamond-League-Meetings) nicht das superhohe Tempo vorlegen konnte, um die Konkurrenz frühzeitig zu ermüden und damit ihre Kräfte in der Endphase präventiv abzuschwächen. „50 Meter vor der Ziellinie wusste ich: Ich habe ihn!“, erzählte Kerr begeistert. Im gleichen Moment sah man im Gesichtsausdruck des Norwegers, dass er sich seiner neuerlichen Niederlage bewusst wurde. Hallen-WM 2022, WM 2022 und WM 2023 – drei Silbermedaillen in Folge sind nicht der Anspruch des 22-Jährigen. Aber Ingebrigtsen gab sich als fairer Verlierer: „Großes Lob an Kerr. Er hatte ein sehr gutes Rennen. Ich fühle mich ein bisschen unglücklich, weil ich das, was ich die ganze Saison gezeigt habe, ausgerechnet im WM-Finale nicht veredeln konnte.“
Ergebnis des 1.500m-Finals der Männer, WM 2023
Gold: Josh Kerr (Großbritannien) 3:29,38 Minuten *
Silber: Jakob Ingebrigtsen (Norwegen) 3:29,65 Minuten
Bronze: Narve Gilje Nordas (Norwegen) 3:29,68 Minuten
4. Abel Kipsang (Kenia) 3:29,89 Minuten
5. Yared Nuguse (USA) 3:30,25 Minuten
6. Mario Garcia (Spanien) 3:30,26 Minuten
7. Cole Hocker (USA) 3:30,70 Minuten **
8. Reynold Cheruiyot (Kenia) 3:30,78 Minuten
9. Neil Gourley (Großbritannien) 3:31,10 Minuten
10. Niels Laros (Niederlande) 3:31,25 Minuten ***
11. Azzedine Habz (Frankreich) 3:33,14 Minuten
12. Isaac Nader (Portugal) 3:35,41 Minuten
* neue Saisonbestleistung
** neuer persönliche Bestleistung
*** neuer holländischer Landesrekord
Hartes Duell in der Kurve
Es war ein harter Zweikampf um den Sieg, den sich die beiden Rivalen lieferten. Ingebrigtsen hatte nach der ersten schnellen Führungsrunde durch den Kenianer Abel Kipsang in 56,01 Sekunden die erste Position übernommen und dem Feld einen Steigerungslauf aufgezwungen. Kerr schob sich auf der Gegengerade der vorletzten Runde auf die zweite Position. Dieses Manöver in Kombination mit den bisher sehr guten Leistungen in dieser Saison machten den 25-jährigen Schotten wenig überraschend zum Hauptkontrahenten des Favoriten. Dieser beschleunigte eingangs der letzten Runde, doch Kerr hatte eine hervorragende vorletzte Kurve und attackierte Ingebrigtsen eingangs der letzten. Mit Einsatz auch seiner Ellbogen wehrte sich der Norweger auf der Innenbahn gegen das drohende Überholmanöver.
Beide durchliefen die Kurve parallel, zwei Hundertstelsekunden trennten das Duo eingangs der Zielgerade. Ingebrigtsen kämpfte, hatte aber gegen die Übermacht Kerrs keine Chance. In einer Zeit von 3:29,38 Minuten, dem zweitschnellsten Rennen des Schotten nach dem Olympischen, stand der größte Erfolg seiner Laufbahn fest. „Die letzten Augenblicke dieses Rennens werde ich nie vergessen. Ich habe mein ganzes Herz reingelegt und mir war die ganze harte Arbeit im Vorfeld bewusst. Und mir war klar, wie schwierig Jakobs Stellung ist, als Favorit, der sich mit Welt- und Europarekorde sowie Doppelstarts beschäftigt. Ich konnte heute alles, alles all-in legen. Herausgekommen sind die Emotionen der letzten 16 Jahre“, gab Kerr ausführlich Einblick in seine Gedanken. „Es ist verrückt, dass unser Leichtathletikclub in Edinburgh nun zwei Weltmeister in Folge stellt. Ich wusste, dass Jake heute im Publikum saß. Ich bin extrem stolz auf mich, nun an der Spitze der Welt zu stehen. Alle Schmerzen waren es wert.“
Ingebrigtsens schnellste Schlussrunde der Saison reichte nicht.
Ingebrigtsen nahm den zweiten Platz, seine erste Niederlage seit genau einem Jahr, vielleicht auch deshalb offenbar ohne größere Aufregung zur Kenntnis, weil ihm sich mit dem 5.000m-Lauf eine zweite Chance bietet. Und weil er mit einer Schlussrunde von 53,76 Sekunden keine katastrophale Leistung auf den letzten 400 Metern geboten hatte, ganz im Gegenteil. Laut „Let’s Run.com“ war es seine schnellste Schlussrunde, aber die langsamste Zielgerade in diesem Jahr. Die Qualität der Schlussrunde reichte aber nicht, weil Kerr eine Schlussrunde in 52,77 auf die Bahn zauberte. Ein fantastisches Finale, das gestern möglich war, in der Diamond League bei durch die Mitarbeit von Tempomachern schnelleren ersten 1.000m nicht in dieser hohen Qualität. Interessant ist der Eindruck, dass Ingebrigtsen, der dieses Mal etwas früher an die erste Position lief, eine insgesamt doch ähnliche Taktik wählte, die 2022 auf der Gold-Jagd gescheitert war, auch deshalb, weil er in einem großen Interview mit dem norwegischen TV-Sender NRK vor der WM das Rennen von Eugene 2022 als „schlechtes taktisches Rennen“ bezeichnete, in dem manche Dinge, die er gemacht habe, im Nachhinein verwunderlich erschienen.
Der Abend wäre für Ingebrigtsen aber beinahe noch viel schlimmer ausgegangen. Um ein Haar hätte ihn sein Landsmann Narve Gilje Nordas, der überraschend zur Bronzemedaille stürmte, auf der Ziellinie noch überholt. Am Ende lag der 24-Jährige in einer Zeit von 3:59,68 Minuten nur 0,03 Sekunden hinter seinem viel prominenteren Landsmann. Nordas erzielte in 52,61 Sekunden die schnellste Schlussrunde im kompletten Feld, also 1,15 Sekunden schneller als Ingebrigtsen. Von dieser Differenz machte er laut Zwischenzeiten von World Athletics alleine 1,09 Sekunden auf den letzten Metern gut, ein irrer Endspurt. Wäre Nordas Zweiter geworden, es wäre für die Ehre Ingebrigtsens eine deftige Niederlage gewesen. Denn sein Landsmann wird von Ingebrigtsens Vater Gjert trainiert, den die Ingebrigtsen-Brüder vor der WM im Vorjahr gekündigt hatten. Die Familienparteien gingen im Streit auseinander und wie tief die Gräben sind, zeigt die Tatsache, dass der norwegische Verband Gjert Ingebrigtsen als Coach von Nordas, der sowohl über 1.500m als auch 5.000m nominiert wurde und dessen Medaillenchancen keineswegs absurd waren, keine Akkreditierung für die WM gab, womit er keinen Zugang zu den offiziellen Wettkampf- und Trainingsstätten hat. Als Konsequenz zog Nordas, der die Entscheidung im norwegischen Fernsehen akzeptierte, aus dem norwegischen Team-Hotel aus und bezog eine Unterkunft gemeinsam mit seinem Trainer.
Für Nordas, der mit enormen Fortschritten seit heuer zur Weltklasse gehört, ist die WM-Bronzemedaille sein mit Abstand größter Erfolg. „Ich wusste, dass eine Medaille möglich sei und ich hatte keine Angst, darum zu kämpfen. Wenn ich denke, dass ich im letzten Jahr nicht einmal im Finale war, fühle ich mich jetzt wie im Himmel“, sagte er. Auch für seinen Coach ist das Abschneiden ein enormer Erfolg und wohl auch eine Genugtuung, die wohl nur größer gewesen wäre, hätte er seinen Sohn im übertragenen Sinne besiegt.
Europa dominiert den 1.500m-Lauf
Wie im Vorjahr in Eugene standen also auch in Budapest drei Europäer auf dem WM-Stockerl des 1.500m-Laufs. Wie außergewöhnlich das ist, zeigt ein Blick in die Historie der Laufentscheidungen bei den Weltmeisterschaften. Bei den Männern gab es das davor zuletzt 1987 in Rom im 3.000m-Hindernislauf. Bei den Frauen gab es zwar öfters ein rein europäisches Stockerl, im laufenden Jahrhundert lediglich dreimal: allesamt im 1.500m-Lauf zu Beginn des ersten Jahrzehnts.
Bester Nicht-Europäer war Abel Kipsang, der wie bei den Olympischen Spielen von Tokio Vierter wurde. Der US-amerikanische Medaillenkandidat Yared Nuguse musste mit Rang fünf Vorlieb nehmen, hinter dem Spanier Mario Garcia erzielte Cole Hocker eine neue persönliche Bestleistung von 3:30,70 Minuten. Der junge US-Boy absolvierte seinen zweiten sehr starken Wettkampf seiner internationalen Karriere, der erste war in Tokio bei den Olympischen Spielen. Junioren-Weltmeister Reynold Cheruiyot kam auf Platz acht (3:30,78), zwei Sekunden schneller als der bisher schnellste Achtplatzierte der WM-Geschichte. Der 18-jährige Niels Laros verbesserte seinen holländischen Rekord um eineinhalb Sekunden auf eine Zeit von 3:31,25 Minuten und belegte Platz zehn. Bis Mitte der letzten Runde lag er noch hervorragend im Kampf um die Bronzemedaille, ehe sich am Schluss dann doch bewahrheitete, dass das Rennen für den Jung-Erwachsenen einen Tick zu schnell war.
Coe und ein gutes Omen?
Kein geringerer als WA-Präsident Sebastian Coe, selbst zweifacher Olympiasieger in dieser Disziplin, schritt auf die Bahn des Budapester WM-Stadions und überreichte die Präsentationsmedaillen, ein Novum bei diesen Titelkämpfen. Dass er einen Landsmann die Goldene umhängte, mag ein netter Nebeneffekt gewesen sein. Vielleicht hatte Coes Auftreten aber für Ingebrigtsen Symbolcharakter. Denn der Brite selbst war seinerzeit der mit Abstand schnellste 800m-Läufer der Welt, konnte aber nie eine Goldmedaille in dieser Disziplin gewinnen – dafür zwei auf der längeren Distanz. Vielleicht gelingt dies dem Norweger, wenn er im morgigen 5.000m-Vorlauf die Unternehmung Titelverteidigung angeht.
Leichtathletik-Weltmeisterschaften 2023 in Budapest