Newsletter Subscribe
Enter your email address below and subscribe to our newsletter
Am nächsten Freitag ist London der Nabel der internationalen Leichtathletik, die an den Olympiastätten der britischen Metropole seine 16. Leichtathletik-Weltmeisterschaften austrägt. Wenn Profis in der Primetime des TV-Programms die Laufschuhe schnüren, erhalten Faktoren eine alles entscheidende Rolle, die im Freizeitlaufsport…
Am nächsten Freitag ist London der Nabel der internationalen Leichtathletik, die an den Olympiastätten der britischen Metropole seine 16. Leichtathletik-Weltmeisterschaften austrägt. Wenn Profis in der Primetime des TV-Programms die Laufschuhe schnüren, erhalten Faktoren eine alles entscheidende Rolle, die im Freizeitlaufsport weit weniger relevant, aber dennoch interessant sind. Die richtige Strategie und das Einsetzen der richtigen Waffen im richtigen Moment entscheidet in London schließlich über glorreiche Erfolge, die Heldenstatus kreieren, und bittere Niederlagen, die monatelange Vorbereitungen in wenigen Sekunden in Schutt und Asche legen können. Marginale Unterschiede geben den Ausschlag zwischen Edelmetall und Blech.
Zwei Hauptansätze unterscheiden sich in der Renngestaltung bei Meisterschaftsrennen: Frontrunning und Laufen im Windschatten. Da Pacemaker bei Weltmeisterschaften fehlen, muss eine Läuferin oder ein Läufer zwangsläufig an die Spitze. Daher kann es passieren, dass auf den Langstrecken die ersten Meter aufreizend langsam sind, weil sich kaum jemand gerne in diese Rolle drängen lässt. Das so genannte Frontrunning, also bestimmen des eigenen Tempos von der Spitze, ist ein auf den Mittelstrecken immer beliebteres Mittel. David Rudisha dominiert mit dieser Philosophie seit Jahren die 800m-Läufe inklusive seines fulminanten Weltrekords bei den Olympischen Spielen von London 2012. Nijel Amos, potenzieller Konkurrent um Gold, lief in den letzten Wochen nach ähnlichem Rezept höchst erfolgreich. Und Matt Centrowitz feierte bei den Olympischen Spielen in Rio über 1.500m – zugegebenermaßen bei langsamem Tempo auf der ersten Hälfte – einen beeindruckenden Olympiasieg. In diesem Rennen äußerste sich offensichtlich wie selten, dass niemand führen wollte. Dieser Philosophie steht ein viel beliebterer Ansatz entgegen: eine Position im Windschatten eines Konkurrenten, möglichst weit vorne im Feld, um in einer guten Rennposition Kraft zu sparen und im Finale anzugreifen.
Die Sportwissenschaft liefert eindeutige Zahlen und favorisiert das Windschattenrennen. Eliud Kipchoge profitierte durch den Windschatten der wechselnden Pacemaker bei seinem „breaking-2“-Versuch in Monza über die Marathondistanz laut einer Studie aus den Niederlanden enorm. Ohne Pacemaker wäre er drei Minuten und 24 Sekunden langsamer gewesen – das sind fast fünf Sekunden pro Kilometer. Im Freizeitsport wird der geringere Energieverbrauch aufgrund Windschattens im Marathon auf 2% und auf Mittelstrecken auf 4% geschätzt (laut einer Studie aus dem Fachmagazin „Journal of Applied Physiology“, 1980). Je langsamer das Lauftempo, desto geringer ist natürlich der Effekt. Dennoch ist er auch im Freizeitlaufsport relevant und kann rasch zwei Sekunden pro Kilometer Zeiteinsparung bringen.
Neben dem physikalischen Vorteil des Windschattens spielt auch der psychologische eine nicht unbedeutende Rolle. Laut eines Artikels im Fachmagazin „Monitor on Psychology“, veröffentlicht in der Sommerausgabe 2008, der sich auf eine im „American Journal of Psychology“ 1898 veröffentlichte Studie bezieht, gab es bereits damals sportpsychologische Ansätze, die die soziale und wetteifernde Komponente beim Wettkampf in einer Gruppe beim Radsport als leistungssteigernd ermittelte. Sie halfen, bei singulären Einzelzeitfahren nicht verfügbare Energie im Wettbewerb mit Rivalen freizusetzen. Dagegen ist das Frontrunning aus psychologischer Sicht eine deutlich größere Herausforderung, wenn auch aus physiologischer Sicht trotz des aerodynamischen Nachteils möglicherweise sinnvoll, weil man sein „Wohlfühl-Tempo“ wählen kann. Die Angst vor dem Überholt-werden muss gänzlich ausgeschaltet werden.
Für Freizeitläufer auf moderatem Niveau ist ein besonders ambitionierter Schlussspurt nicht empfehlenswert. Es erhöht das Risiko muskulärer Verletzungen im zu diesem Zeitpunkt bereits sehr beanspruchten Körper schlagartig. Die besten Profis der Welt sind natürlich körperlich für ein furioses Finale bestens vorbereitet und so ist der Schlussspurt fast immer entscheidend für den Ausgang des Rennens. Egal ob ein Spurt die Zielgerade entlang, ein langer Schlussspurt inklusive der letzten Kurve oder eine massive Tempoverschärfung auf der Schlussrunde, um die Konkurrenz zu zerstören. Für das letztgenannte Szenario ist Großbritanniens Laufheld Mo Farah der Paradesportler schlechthin. Was die persönlichen Bestleistungen betrifft, ist der Brite auf diversen Distanzen weit von Weltrekorden entfernt, aber in den Schlussrunden seiner Disziplinen – nach einem Vorlauf von 9.600 bzw. 4.600 Metern – kann ihm keiner etwas vormachen. Im Marathon oder Halbmarathon spielt der Schlussspurt eher selten die entscheidende Rolle, auch wenn beim heurigen Vienna City Marathon gleich beide Rennen erst auf den letzten Metern entschieden wurden.
Im Schlussspurts geht es für die beteiligten Läufer darum, alle Reserven aus einem bereits erschöpften Körper herauszuholen und ihn noch einmal zu quälen – mit der Chance großer Erfolge, ertragreicher Siegerschecks und weiterer wirtschaftlicher Profite als Folge vor den Augen. Unabhängig von Ruhm und Ehre. Jene Reserven also, die sich der menschliche Körper in jeder Situation behalten will, um den Überlebensinstinkt des Menschen Folge zu leisten. Daher lässt sich der Finishing-Kick bis zu einem bestimmten Grad auf hohem Niveau trainieren, der Umgang mit der individuellen Schmerzgrenze bleibt aber ein wichtiger Faktor, der von natürlicher Gabe beeinflusst wird. „Menschen denken immer, sie seinen von der eigenen Genetik eingeschränkt. Bis zu einem bestimmten Grad kann man sie aber manipulieren“, sagte der US-amerikanische Sportwissenschaftler Steve Magness in einem Artikel auf der Website von Runner’s World (2013).
Eine interessante Unterscheidung zwischen den verschiedenen Disziplinen im Bahnlaufsport brachte eine 2006 veröffentlichte Studie von Ross Tucker, anerkannter Sportwissenschaftler an der Universität in Kapstadt. Eine Analyse aller Weltrekordläufe im vergangenen Jahrhundert brachte zum Vorschein, dass beim Meilenrennen (vermutlich waren hier auch 1.500m-Läufe eingerechnet, Anm.) die Geschwindigkeit in der Schlusssphase des Rennens sich am deutlichsten von jener in den vorangegangenen Rennphasen abhob – noch deutlicher als über 5.000m und 10.000m. Sprich, auf der rund vier Stadionrunden umfassenden Strecke ist der dynamischste Schlussspurt erforderlich. Konträr dazu sind die Erkenntnisse aus dem 800m-Lauf, bei dem die Laufgeschwindigkeit im Laufe des Rennens abnimmt. Hier hat der Schlussspurt im Sinne eines Kicks keine Bedeutung, viel mehr im Sinne eines „Überlebens“.